50 Jahre Kreis Gütersloh. Wie schön wäre es doch, wenn die Kreisstadt mitfeiern könnte. Sich an die Spitze stellen, da, wo sie hingehört, die Party richtig rocken. Sich ordentlich in die Brust werfen und endlich mal den Ruhm auskosten: Wir sind die Kreisstadt des besten Kreises der Welt! Von Herzen hätte ich Gütersloh das gewünscht. Doch, es geht nicht, denn ihr Zustand erlaubt es nicht. Ein chronisches Leiden lässt keine Feierlaune aufkommen, schlimmer noch, es erreicht ausgerechnet im Jubiläumsjahr einen vorläufigen Höhepunkt. Die Diagnose lautet: multiples Identitäts- und Imageversagen.
Die Stadt als Patient fände innerhalb ihrer Grenzen ja durchaus eine passende Therapieeinrichtung. Denn es sind ja nicht die lebenserhaltenden Organe, die Wirtschaft und so. Das läuft alles bestens. Nein, es ist der mentale Zustand, eine chronische Sinnkrise: wer bin ich, wer will ich sein, wie wirke ich nach außen? In diesen Hinsichten der Selbst- und Fremdwahrnehmung war Güterslohs Zustand schon immer labil, nun aber ist alles aus dem Ruder gelaufen. Weiter denn je ist die Balance zwischen Identität und Image davon entfernt eine zu sein.
Dröseln wir die Diagnose mal auf und beginnen mit dem Identitätsleiden. Dafür sind längst die beiden Pole Kaff und Kosmos sprichwörtlich geworden, wobei das Pendel bis heute deutlich mehr Richtung Kaff ausschlägt. 50 Jahre haben nicht gereicht, um auch nur ansatzweise eine Identität als Kreisstadt auszubilden. Ohne Murren hat Wiedenbrück Gütersloh diesen Status schon zugestanden, als noch nicht einmal klar war, ob aus der Vernunftehe mit dem Kreis Halle etwas werden würde. Aber die so Beschenkte hat es nicht einmal gemerkt und deshalb auch nichts daraus gemacht. Zugegeben, die Selbstfindungsphase des neuen Kreises mit dem Namen ‚seiner‘ Stadt dauerte sehr lange. 25 Jahre vergingen, ehe endlich das neue Kreishaus kam. Ein Versteck mit Auslaufmöglichkeiten. Aus Sicht der Stadt peripher: „Lasst den Kreis da hinten in Pavenstädt ruhig bauen, was geht uns das an?“
Konnte von Gütersloh erwartet werden, wenigstens eine Teilidentität als Kreisstadt zu entwickeln? Beim vorherrschenden Prinzip des kleinteiligen Denkens eher nicht. Eine Fahrminute vom Rathaus entfernt wird man mit dem Osnabrücker Rad im Stadtteil Kattenstroth begrüßt. Wenig später findet der überraschte Fremde Spexard statt Gütersloh auf dem Ortsschild. Wohin man sich wendet, überall sind selbstbewusste Ortsteile wie Sundern, Blankenhagen, Niehorst, und wie sie sonst noch alle heißen, symbolisch präsent. Der historisch halbwegs Kundige kennt den Grund: Hier ist etwas zusammengekommen, was nicht zusammengehörte: aus dem osnabrückischen Amt Reckenberg, der Herrschaft Rheda und der Grafschaft Ravensberg.
Von allem ein bisschen, vor allem kaum Zentrum. Kreisstadt? Großstadt gar? Wie soll das gehen, wenn klein fein ist.
Dass die Regierbarkeit eines solch fragmentarischen Gebildes kompliziert ist, lässt sich leicht denken. Die Langzeiterfahrungen sprechen da Bände. Und gerieren entsprechende Regierende. Noch schwieriger aber gestaltet sich die Vermarktung dieses Unikums. Damit wären wir beim zweiten Teil der Diagnose, dem gestörten Image. Lassen wir erneut den Fremden zu Wort kommen, so fällt ihm zu Gütersloh außer Miele und Bertelsmann nicht viel ein. Das Leben ist so unbarmherzig und ungerecht gegenüber den Güterslohern, die sich in ihrer vielgestalteten Vielfalt so viel Mühe geben, die Ergebnisse ihres bürgerschaftlichen Engagements auch über die Stadtgrenzen hinaus bekannt zu machen, denn sie sind es überaus wert. Kein Stadtmarketing hat es je geschafft, die einzelnen Perlen als Teil eines Gesamtkunstwerks zum Strahlen zu bringen. Welche Augenweide könnte es sein. Stattdessen wird sich öffentlich an der Frage delektiert, ob der Chefvermarkter zur Versehung seines Amtes Fahrradzubehör und Autopolitur benötigte – eine Provinzposse sondergleichen. Auch publizistisch immer wieder Kaff und keine Spur von Kosmos.
„Oh, schon 50 Jahre Kreisstadt?“ Das ist eine Frage, die niemand stellte. Gemeinsam hätten Therapieansätze gefunden werden können. Rasch wäre erkannt worden, dass sich die Strukturen des Kreises wie in einem Brennglas auch in der Stadt finden. Nur dass mit der Vielfalt und den damit fraglos verbundenen Stärken anders umgegangen wird. Mehr Größe wagen, ohne Gefahr zu laufen, überheblich zu werden. Reste des kollektiven Minderwertigkeitsgefühls einer Stadt, die sich als Summe seiner Ortsteile begreift, über Bord werfen, von der Art „Was haben oder was sind wir schon?“ Mal das Ganze hervorkehren, ohne dass die Einzelteile unter dem besagten Teppich landen.
Warum nicht mal Metropole des besten Kreises der Welt sein? – Güterslohs Seele würde es guttun.

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