Unterwegs mit der Waldbademeisterin Jutta Redecker

Fotos: Detlef Güthenke

„Und in den Wald gehe ich, um meinen Verstand zu verlieren und meine Seele zu finden.“ – Wäre ich zur Kur, würde ich es Wandeln nennen. Gemächlichen Schrittes begebe ich mich mit einer kleinen Gruppe schweigend auf den Weg. Jeden Schritt bewusst nehmen, nicht eilen, kein Wandertempo anschlagen. Eigentlich ist das hier nicht mein Ding, so geht’s mir durch den Kopf.

Warum nur trage ich ständig diesen chronischen Widerstand gegen Ansagen, wie man sich verhalten soll, in mir umher? Mir soll nichts durch den Kopf gehen: Das ist auch ein Teil der Ansage. Tatsächlich wird es dann auch weniger. Das Wandeln wird zum Schlendern, eine gewisse Lockerheit im Hinblick auf das eingangs angesagte Schrittmaß stellt sich ein. Verstärkt richtet sich die Aufmerksamkeit auf Vogelgezwitscher, knarzendes Holz und ein so noch nie bewusst vernommenes Rauschen der Baumwipfel. Ja, es ist noch ein wenig stürmisch nach den großen Stürmen der beiden Tiefs mit ihren unaussprechlichen Namen.

Schublade des nutzlosen Wissens
„Im Wald zwei Wege boten sich mir dar, ich ging den, der weniger betreten war.“ Das Ziel, ein Waldstück im Naturschutzgebiet Salzenteichsheide außerhalb des zu Versmold gehörenden Dorfes Bockhorst, ist erreicht. Jutta Redecker stellt ihren Rucksack unbekannten Inhalts ab, und ich denke, das wird hier eine Art Basislager. Ich sehe mich um und rätsle über den Grund der annähernd parallellaufenden Vertiefungen des Waldbodens und den dazwischen befindlichen Aufwallungen. Aber ich bin doch ohne Auftrag unterwegs, daher verdränge ich schnell den Gedanken, ob die menschliche Hand selbst hier in der vermeintlich unberührten Natur – vor welchen Zeiten auch immer – ein mir unbekanntes Werk verrichtet hat. Ich soll es nicht ergründen, denn wir sollen uns vereinzeln. Hingehen, wo wir uns am wohlsten fühlen. Wahrnehmen, was uns umgibt, nicht auf 500 Metern, sondern innerhalb weniger Schritte vielleicht. Auch etwas, worauf man nicht kommen würde, weil man es in die Schublade des nutzlosen Wissens gesteckt hätte. Ob ein glatter Baumstamm sich kälter anfühlt als einer mit einer raueren Rinde. Ich begebe mich an den Waldrand, wo ich hoffe, Sonnenstrahlen erhaschen zu können. Die Dunkelheit des Waldes misshagt mir, sie lässt mich Undurchdringlichkeit fürchten. Ich brauche Durchblick, Ausblick, Weitblick. Eine mächtige Buche ist passend gekrümmt, um sich bequem an sie anzulehnen. Ich stehe zwischen ihren Wurzeln, die aussehen wie ein Dinosaurierfuß. Die Sonne erreicht den Baum und mich, jetzt passt es.

Zufriedenheit stellt sich ein
„Dich erkenn ich mit verbundnen Augen.“ Auf ein dreimaliges „Kuckuck“ finden sich alle wieder am Basislager ein. Ein kurzer Erfahrungsaustausch, dann sollen die Waldentdeckungen zu zweit fortgesetzt werden. Abwechselnd mit verbundenen Augen – nur wenn’s nicht unangenehm ist. Da mich in der Gruppe eine seit vielen Jahren nicht mehr gesehene alte Freundin mit ihrer Anwesenheit überrascht, fällt die Wahl auf sie. Mit einer gewissen Vertrautheit klappt das vielleicht besser, so denke ich. Meine Waldpartnerin lässt sich zuerst die Augen verbinden. Zufriedenheit stellt sich ein, als ich merke, dass sich die mir Anvertraute an meiner Hand einigermaßen sicher durch das Auf und Ab des unwegsamen Geländes bewegt. Ob das hier eine Landwehr war? Zwischendurch soll sie erfühlen, was ich ihr darreiche. Die Auswahl auf dem winterlichen Waldboden ist begrenzt: Moose, Blätter, vermoderte Holzstückchen. Die Aufgaben werden von ihr ohne Schwierigkeiten gelöst. Dann der Rollentausch mit ähnlichem Verlauf, neu ist ein kalter glatter Stein. Aus der Ahnung einer sinnenreichen Walderkundung wird nach und nach eine neue Erfahrung. „Glück ist Ruhe, die im Wald ist, Glück ist eines Freundes Hand.“

Entspannung der besonderen Art
Pause vor dem dritten Akt mit warmem Apfelpunsch: Welch freundliche und zugleich willkommene Fürsorge, denn bei der weitgehenden Bewegungslosigkeit des Waldbadens am vorletzten Januartag stellt sich doch ein leichtes Frösteln ein. Da wird das schlichte Heißgetränk zur wahren Labsal. Danach offenbart sich Juttas Rucksackinhalt in überraschender Fülle. Decken und Hängematten zunächst, die eine bequeme Horizontale versprechen und nach ihrer Belegung beziehungsweise Besteigung den Ruhenden einen konzentrierten und anhaltenden Blick nach oben in die wogenden Baumwipfel gewähren. Wie der Blick durch ein Kaleidoskop. Dann kleine Rahmen für das persönliche Lieblingsmotiv: Schaut her, dies ist mein Wald wie ich ihn sehen möchte. Oder vermittels kleiner Spiegel – und siehe da: Die Blätter sind von unten noch interessanter anzuschauen als von oben. Perspektivenwechsel tut gut.
Dass bereits drei Stunden vergangen sind, bleibt unbemerkt. Die Ankündigung des Abschieds vom Wald erscheint wie ein vorzeitiges Ende einer Erfahrung, in der die Zeit nicht zählt, wenn ein Baum zum Freund wird. Eine Entspannung der besonderen Art wirkt nach. Bald, aber ungern, hat mich der Sonntag wieder.
„Frieden findet man nur in den Wäldern.“ Danke, Jutta, dass du uns das gelehrt hast. Wir brauchen es in unserer Zeit.

Ein gemütlicher Spaziergang im Wald wird bei den Japanern als „Shinrin Yoku“, also als „Waldbaden“, bezeichnet. Er führt zu Entschleunigung in der Natur. Jung und Alt können mitmachen. Bei der bewussten Wahrnehmung des Waldes mit allen Sinnen wird vermittelt, wie man im Wald und mit Hilfe des Waldes zur Entspannung gelangen kann. Waldbaden ist für Menschen, die sich erinnern möchten, wie es ist, entspannt zu sein. Das Wetter spielt dabei keine Rolle. Jedoch sollten alle Teilnehmer bereit sein, sich auf ein kleines Abenteuer einzulassen: Nichts zu wollen und nichts zu erzwingen. Waldbaden ist keine Therapie, keine esoterische oder wissenschaftliche „Veranstaltung“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert