Je schlechter die Zeiten, desto begehrter das Holz. Die Zeit um 1800 war so eine schlechte Zeit, gekennzeichnet von wirtschaftlicher Depression und politischer Orientierungslosigkeit infolge der Französischen Revolution; ein Epochenumbruch, bei dem nicht klar war, wohin die Reise gehen würde. Eine gute Zeit höchstens für den Einfluss der Medien. 1798 in Dortmund von Arnold Mallinckrodt gegründet, erschien zweimal wöchentlich der „Westfälische Anzeiger“ als Organ des politischen Liberalismus. Das Blatt wurde zur bedeutendsten Zeitung in Westfalen, vielleicht auch, weil es für Sensationsmeldungen stets offen war. So finden sich zwei Versmold betreffende Notizen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben.

Zunächst geht ein Artikel vom 27. Januar 1801 den Ursachen der verstärkt spürbaren Holzknappheit nach. Autor ist der Jöllenbecker Pastor Johann Moritz Schwager. Versorgte man sich zuvor in den sogenannten Gemeinheiten mit dem nötigen Brennholz, so galt dies nach der fast vollständig vollzogenen Privatisierung dieser Flächen im Wege der Markenteilung als Diebstahl. Als weiterer Grund wird in dem Artikel die Anlegung der vielen Knüppeldämme angeführt. Mit Holz suchte man die Befahrbarkeit der Wege auf morastigem und sumpfigem Untergrund zu verbessern. Solche Knüppeldämme gab es auch in Versmold, etwa am Hühnerkottendamm, der späteren Wiesenstraße. Dass man sich damit „auf den Holzweg“ begeben hatte, wurde wegen des großen Holzverbrauchs für derartige Befestigungen schon bald deutlich.

Der Pickert als Holzfresser?
Als dritte wesentliche und vor allem überraschende Ursache wird der verstärkte Kartoffelanbau genannt. Wir erinnern uns an die Kartoffeln auf dem Grab Friedrichs des Großen in Potsdam, der diese Ernährungsgewohnheit eingeführt hatte, um von den schwankenden Anbauerträgen des Brotgetreides und damit den Getreidepreisen unabhängiger zu werden. Für diese neue Mode konnte der Pastor jedoch kein Verständnis aufbringen: „Der Kartoffelbau ward mit einem Male unglaublich ausgedehnt, der geringste Kötter mästete sich sein Ferken [Ferkel] oder Schwein mit Kartoffeln, diese wurden gekocht, welches viel Holz kostete. Der Luxus verlangte Leckerbissen; man rieb die Kartoffeln, mengte den Brei mit Weizenmehl ein, verarbeitete die Masse mit Butter oder Schmalz und Eyern, strich den Teig auf die oberste Platte des Stubenofens, um ihn zu backen, und dazu mußte der Ofen so heiß seyn, daß man auch im kalten Winter Thür und Fenster öffnen mußte. Dies häßliche Gefräß ist allgemein beliebt, kostet ungeheuer viel Holz, und der ehrliche Mann, der noch sein Holz kauft und kaufen kann, bedarf jetzt dreimal so viel als vor dem Kartoffelregimente.”

Ganz beiläufig erfährt der Leser, dass das „Kartoffelregiment“ zur Vermehrung der Schweinemast und zur Verbesserung der Ernährungssituation beigetragen hatte. Und er liest, wie der klassische westfälische Pickert in seiner Frühzeit zubereitet wurde. Dem Autor geht es aber um die Kehrseite der Medaille. Wenn er sich verächtlich über das Kartoffelgebäck und seine Konsumenten, die ravensbergischen „Pickertbüls“ äußert, so deshalb, weil er die zweifelsohne negativen Auswirkungen der neuen Essgewohnheit namhaft macht: Energieverschwendung und Holzknappheit, die unweigerlich zu Holzdiebstahl führen musste. Schwager beklagt, dass man dadurch „überall den völligen Ruin der Waldungen vor Augen“ sehe.

Entsprechend waren die Eigentumsdelikte an diesem begehrten Rohstoff besonders zahlreich. Den 35.000 „gemeinen“ Diebstählen standen 1850 in ganz Preußen 265.000 registrierte Holzdiebstähle gegenüber. Die Ordnungskräfte waren machtlos beziehungsweise begannen erst nach und nach einen Holzdiebstahl als strafbares Delikt anzuerkennen. Die Geschädigten setzten sich selbst zur Wehr. Nachdem Geldstrafen wirkungslos geblieben waren, wuchs zusehends die Gewaltbereitschaft, sowohl aufseiten der Eigentümer als auch der Diebe, die den mittellosen Schichten der Gesellschaft entstammten. Die Zustände wurden unaufhaltsam anarchischer. Auch Ravensberger Bauern schritten zur Selbstjustiz, da ihnen die Überweisung der Übeltäter ans Gericht zu kostspielig und auch unnötig erschien. Schließlich besorgten sie sich lieber Pulver und Schrot, „mit dem festen Vorsatz, jeden Verdächtigen, der bei Nachtzeit seinen Gründen oder Eigenthum zu nahe kommen würde, ohne Umstände auf den Kopf zu schießen.“

Der Sozialhistoriker Josef Mooser ermittelte im Zeitraum von 1800 bis 1848 für Minden-Ravensberg 14 Fälle von Selbstjustiz, davon acht Totschläge. Die grausamste aller überlieferten Taten geschah in Versmold, von ihr berichtet wiederum der „Westfälische Anzeiger“ am 22. August 1806: „Vor kurzem sind wieder [!] im Kirchspiel Versmold bei dem Colonus [Bauern] Petermann am hellen Tage 8 Diebe, deren einer den anderen anzugeben gezwungen worden ist, und die dann aus ihren Häusern herbeigeholt wurden, vom Pöbel executirt, so daß nach Aussage eines Augenzeugen hiesigen Orts die Hausflur von Blut geflossen und die Menschen wie abgeschlachtete Schweine herumgelegen haben.“

Beim Überlebenskampf Vieler wurde das Leben des Einzelnen wenig geachtet. Das, was die Menschen seit kurzem ihr Eigen nannten, wurde bis zum letzten verteidigt. Das Ende der wirtschaftlichen Gemeinsamkeit in der Almende brachte einstige gemeinsame Nutzer und Nachbarn gegeneinander auf, verdarb die Moral und unterminierte das Gewaltmonopol des Staates. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis alles halbwegs wiederhergestellt war.

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