Schon beim Betreten des Gebäudes an der Neuenkirchener Straße in Gütersloh, das gleich einem Bienenstock der Dreh- und Angelpunkt für alle Mitarbeitenden und ambulanten Klienten des Haus Nordhorn ist, wird klar: Das hier ist nicht einfach irgendein Büro, sondern vielmehr ein Lebensraum.
Text: Kathrin Jünger . Fotos: Detlef Güthenke
Wer durch die Glastür tritt, findet sich unmittelbar in einer geräumigen Küche wieder, an deren Esstisch fast immer jemand sitzt. Sei es zur Arbeit mit Klienten, zum Mittagessen oder zum Plausch zwischen Tür und Angel – irgendein Grund findet sich immer, hier Platz zu nehmen. Und wie in einem echten Bienenstock herrscht ein geschäftiges Treiben: Kolleginnen fliegen kurz auf einen Schluck Wasser herein, bevor sie wieder ausschwärmen um ihre Klienten zu Hause zu besuchen. Einer dieser Klienten kommt, um seine Wäsche zu waschen oder im Kraftraum ein paar Gewichte zu stemmen, ein anderer sucht nur ein nettes Beisammensein oder Ablenkung von den Mühen des Lebens und findet hier garantiert einen Gesprächspartner. Auch die anliegenden Büros liefern keinen Hinweis mehr darauf, dass dies einmal der Sitz einer großen Bank war: Jeder Arbeitsplatz ist individuell gestaltet, die Räume erinnern mehr an kleine Wohnzimmer als an öde Schreibtischwüsten. Unter der Maschine steht immer ein – zugegebenermaßen eher mittelmäßiger – Filterkaffee, der dafür aber bei Sonnenschein auch draußen im Strandkorb genossen werden kann.
Das Haus Nordhorn ist eine Oase im oft überwältigenden Trubel, den die Arbeit mit der Zielgruppe mit sich bringt. Von hier aus werden Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen oder Suchterkrankungen sowie Kinder, Jugendliche und deren Familien in ihrem Alltag unterstützt und in allen Lebenssituationen begleitet, in denen sie ohne Hilfe nicht zurechtkämen. Um das zu erreichen, sind die Fachkräfte ständig auf Achse. Ambulante Wohnbetreuung bedeutet daher auch, dass die Mitarbeiter ihren Arbeitstag von vorne bis hinten selbst koordinieren. Termine mit Klienten muss jeder selbst vereinbaren, die regelmäßig anfallenden Schreibarbeiten und Telefonate irgendwo dazwischen quetschen und gleichzeitig auf die auch hier nicht ganz zu vernachlässigende Effizienz achten. Es ist ein hektischer Job, in dem es selten Phasen der Langeweile gibt und der zusätzlich damit verbunden ist, sich permanent mit teils sehr bedrückenden Lebenswirklichkeiten auseinanderzusetzen. Und trotzdem ist die Atmosphäre hier gelöst, wird auf dem Flur gescherzt (manchmal sogar getanzt) und fühlen sich die ständigen Gespräche über die Arbeit eher entlastend denn mühsam an. Woran liegt das? Was machen die Nordhorner, die ihr Chef Sebastian Stasiuk gern als „tollstes Team der Welt“ bezeichnet, anders als andere?
Die Antwort hierauf ist vielschichtig – und ganz sicher sind es nicht (nur) der Billardtisch oder der berühmte Gratis-Obstkorb, die dafür sorgen, dass sich die Mitarbeiter diesem Ort verbunden fühlen und in der Regel gern zur Arbeit kommen. Auch handelt es sich beim Haus Nordhorn nicht etwa um ein super junges, innovatives Start-up, das es sich zum Ziel gesetzt hat, die Arbeitswelt ganz neu zu erfinden. Im Gegenteil: der Gemeinnützige Verein für Rehabilitation e.V., der u.a. Träger des Ambulant Betreuten Wohnens ist, hat in dieser Stadt eine lange Tradition und ist über die Jahre von einem kleinen zu einem mittelgroßen Unternehmen gewachsen, das inzwischen mehr als 60 Mitarbeitende beschäftigt – Tendenz steigend. Und das in einer Phase, in der kompetentes Personal nur schwer zu finden und langfristig zu halten ist, während der Bedarf an Unterstützungsleistungen in der Gesellschaft stetig zunimmt. Wo es früher noch hieß, Soziale Arbeit sei ein Feld, in dem es keine Jobs gebe, herrscht heute der wohlbekannte Fachkräftemangel. Passé sind damit auch die Zeiten, in denen junge Menschen bereit waren, für einen Hungerlohn eine mental auslaugende Arbeit zu verrichten. Die neue Generation stellt (zurecht) Ansprüche an ihren Job und kann dies tun, denn sie wird, nicht nur in diesem Sektor, händeringend gebraucht. Arbeit soll für sie nicht nur die Miete bezahlen. Sie soll sinnstiftend sein und vereinbar mit dem Familienleben, soll Raum bieten für Selbstverwirklichung und private Interessen. Das scheint viel verlangt, aber es ist möglich, all das zu bieten. Das Haus Nordhorn zeigt wie: Neben der heimeligen Atmosphäre, auf die hier so viel Wert gelegt wird, zeichnet sich die Arbeit in der Einrichtung durch ein hohes Maß an Flexibilität aus. Das ist sicherlich auch der Jobstruktur geschuldet. Die bereits beschriebene Selbstorganisation der Mitarbeiter ist jedoch nur möglich, weil ihnen seitens der Leitung großes Vertrauen entgegengebracht wird und ihre individuellen Bedürfnisse bei der Planung berücksichtigt werden. Verschiedenste Teilzeitmodelle, die in Absprache mit der Leitung des Hauses jedem erlauben, sein Leben außerhalb der Arbeit möglichst frei zu gestalten, sind hier eine Selbstverständlichkeit. Wo es geht, werden den Mitarbeitenden Klienten zugeteilt, die nicht nur in Bezug auf die unterschiedlichen Charaktereigenschaften zu ihnen passen, sondern die sich auch mit den angestrebten Arbeitszeiten vereinen lassen.
Das notwendige Vertrauen in das eigene Kollegium wiederum basiert darauf, jedes Glied der Kette in seiner Ganzheit als wertvoll zu betrachten. Dass Menschen, die hier arbeiten, eben auch Eltern sind, ein Studium oder eine Weiterbildung verfolgen oder zu Hause ein Familienmitglied pflegen, wird nicht als lästig aufgefasst, sondern als zusätzlicher Skill freudig entgegengenommen. Alle Fähigkeiten und Interessen, die der Einzelne so mitbringt, sind im Haus Nordhorn stets willkommen. Du hast eine Zusatzausbildung zum Klinik-Clown? Prima, gründe doch eine Theatergruppe! Du bist in deiner Freizeit Rapper oder kennst dich mit Kräutern im Wald aus? Klasse, das ist sicher im Arbeitsalltag irgendwo einsetzbar. Natürlich lässt sich ein Clown nicht beliebig in jeden Job integrieren, aber der Grundgedanke ist doch universell: In einem Unternehmen die individuellen Talente der Mitarbeitenden als wertvoll zu betrachten, sorgt dafür, dass sich diese mit ihrer vollständigen Persönlichkeit einbringen können und wollen. Es führt dazu, dass sich dort niemand wie eine Nummer fühlen muss, die jederzeit austauschbar wäre, und zeitigt den wundervollen Nebeneffekt, dass Arbeit und Vergnügen miteinander vereinbar werden. Und seien wir mal ehrlich: Spätestens bei der Betriebsfeier erweisen sich der Clown oder der Rapper ganz bestimmt als echte Bereicherung.
Auch die in der Sozialen Arbeit üblichen Methoden sorgen dafür, dass sich im Haus Nordhorn ein Team herausgebildet hat, das sich jederzeit gegenseitig stützt und Herausforderungen gemeinsam begegnet. So gibt es wöchentliche Teamsitzungen, in denen nicht einfach nach Top-Down-Prinzip Aufgaben verteilt, sondern alle gehört und Anregungen aus der Mitarbeiterschaft ernst genommen werden. In unterschiedlichsten Settings (beispielsweise einer regelmäßigen offenen Sprechstunde mit der Leitung oder kollegialen Beratungen) findet ein ständiger Austausch über die Arbeit selbst, aber auch über das gesamte Drumherum statt. All das dient dazu, das Wohlergehen und Belastungsempfinden der Belegschaft im Blick zu behalten und gegebenenfalls gegenzusteuern. Denn wer diesen Job über längere Zeit machen soll, braucht irgendwo ein entlastendes Moment, braucht die Möglichkeit, auch mal durchzuschnaufen und auf sich selbst zu gucken. Es zeigt aber auch, dass eine Kultur gelebt wird, in der alle bereit dazu sind, voneinander zu lernen, statt beständig auf vorgegebene Hierarchien zu beharren. Letzteres bedeutet nicht etwa, dass es keine klaren Strukturen gibt: Wo nötig, werden auch hier Entscheidungen einfach mal getroffen, nur eben nicht ohne Beachtung der Schwarmintelligenz.
Verbunden mit einem tatsächlich gelebten Mitspracherecht ist auch der Wille, sich ständig weiterzuentwickeln. Statt auf starren Konzepten und deren strikter Umsetzung zu beharren, unterliegt im Haus Nordhorn alles einem fortlaufenden Prozess, der von immer neuen Eindrücken geprägt ist und mitunter kritisch hinterfragt werden muss. Beschlossene Änderungen werden angetestet und in ihrer Wirkung beobachtet, bevor sie als permanent angesehen werden. Das neue Einarbeitungssystem hat seine Tücken und läuft nicht so reibungslos, wie es auf dem Papier schien? Dann wird mit vereinten Kräften und Ideen nachgebessert. Die ganze Idee erweist sich als unpraktisch? Dann wird sie über Bord geworfen und in einem Kleinteam eine neue entwickelt. Nichts ist in Stein gemeißelt, aber alles verdient, bedacht zu werden. In der freien Wirtschaft nennt sich dieser Ansatz „Agiles Arbeiten“ – ein relativ neuer Begriff, der aber auch nichts anderes beschreibt, als das, was in vielen sozialen Einrichtungen bereits selbstverständlich gelebt wird, weil es oftmals gar nicht anders geht. Schließlich arbeitet man hier mit Menschen, die genau so unterschiedlich sind, wie die Wege, auf denen ihnen begegnet werden kann.