Als Ende September in Berlin der Deutsche Verlagspreis vergeben wurde, befanden sich unter den 64 Preisträgerinnen auch zwei waschechte Verbrecherinnen – Serientäter*innen, um präzise zu sein. Bereits zum vierten Mal wurde der Berliner Verbrecher Verlag mit dem von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien ausgelobten Preis ausgezeichnet.
Text und Fotos: Vera Corsmeyer
Getrieben von privater Neugier
Kristine Listau und Jörg Sundermeier verkörpern gemeinsam mit ihren Kolleginnen genau das, was Claudia Roth in ihrem Grußwort als „Lordsiegelbewahrer von kultureller Breite und Vielfalt“ bezeichnet. Das Engagement für und das Interesse an der Literatur zeigt sich bereits in der Gründungsgeschichte des Verlags, der 2025 sein 30-jähriges Bestehen feiern wird. Getrieben von ihrer rein privaten Neugier nach genau den neuen Texten diverser Lieblingsautorinnen, deren Veröffentlichung noch auf sich warten ließ, entwickelten die Literaturstudenten Werner Labisch und Jörg Sundermeier den Plan, sich selbst als Verlag auszugeben.
Gleich ihr erster Coup war das literarische Debüt von Dietmar Dath, der sie mit seinem soeben fertiggestellten Manuskript von „Cordula killt dich! Oder: Wir sind doch nicht die Nemesis von jedem Pfeifenheini“ in Zugzwang brachte. Also erschien im August 1995 das erste Buch im Verbrecher Verlag.
Ein richtiger Verbrecher Verlag
2024 folgt die Neuausgabe seines Opus Magnum „Für immer in Honig“, das Dath, neben seinem Debüt „Cordula killt Dich!“ als einen seiner wichtigsten Romane bezeichnet – für diese Ausgabe überarbeitet und um eine kleine Zugabe ergänzt.
Werner Labisch schied Ende 2010 aus dem Verlag aus. 2014 übernimmt Kristine Listau die Geschäftsführung und leitet den Verlag gemeinsam mit Jörg Sundermeier seit 2016. 2021 wurde die entsprechende GmbH gegründet und „die Verbrecherei auf seriöse Basis gestellt. Denn erst mit beschränkter Haftung ist man ein richtiger Verbrecher Verlag.“
Ein richtiger (Verbrecher) Verlag ist das aus fünf fest angestellten Kolleg*innen bestehende Team in jedem Fall. Mehr als 300 Titel umfasst das Programm inzwischen. Der Schwerpunkt liegt auf der Belletristik, daneben finden Sachbücher und wissenschaftliche Publikationen ihren festen Platz. Neben Werkausgaben von Giwi Margwelaschwili, Rudolf Lorenzen und Christian Geissler war die Edition der „Tagebücher“ Erich Mühsams eines der Großprojekte des Verlags.
Debütantinnen beginnen ihren literarischen Weg hier, so erschien mit „Juja“ der erste Roman der Bestsellerautorin Nino Haratischwili 2010 bei den Verbrechern. In der jüngsten Vergangenheit sorgte Marlen Hobracks „Schrödingers Grrrl“ für Aufmerksamkeit in der Leserinnenschaft zwischen Feuilleton und bookstagram. Die Aufmerksamkeit schafft auch die Gestaltung der Verbrecher-Bücher: Sie erscheinen im amerikanischen Format, ohne Schutzumschlag, fast ausschließlich typografisch. Schlicht und vielleicht gerade dadurch umso unübersehbarer. Damit befinden sie sich in bester Gesellschaft von Reihen bei Suhrkamp oder Reclam.
In der Tradition linker Literaturverlage
Dass Kristine Listau, die zuvor in Frankfurt zahlreiche Literaturfestivals wie „Open Books“ organisierte, eine meisterhafte Komplizin ist, bewies sie bereits mit dem ersten von ihr betreuten Projekt: Anke Stellings „Bodentiefe Fenster“, für das sie unter anderem für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Insgesamt sei das Programm durch sie diverser geworden, gerade mehr weibliche Autorinnen werden verlegt, so Jörg Sundermeier. „Vorher seinen diese einfach nicht gesehen worden. Sie lernen voneinander im Verlag.“. Statt auf Manuskript von Autorinnen zu warten, werde nun aktiv gesucht. Mit der Folge, dass es nun auch mehr Einsendungen gäbe.
Zweifelsohne ist der Verbrecher Verlag ein politischer, in der Tradition linker Literaturverlage stehender, für ihre eigene Politisierung wirkt er dabei „nur“ als Verstärker: „Als politische Menschen machen sie natürlich politische Bücher.“
Ihr Engagement reicht weiter, Jörg Sundermeier gehörte 2003 zu den Initiatoren und Organisatoren der Linken Buchtage Berlin, war bis 2021 im Vorstand der Kurt Wolff Stiftung zur Förderung einer vielfältigen Verlags- und Literaturszene, die sich als Interessenvertretung unabhängiger deutscher Verlage versteht. 2014 wurde der Verbrecherverlag für sein „vorbildhaftes Verlagsprogramm“ mit dem jährlich vergebenen Kurt Wolff Preis ausgezeichnet. Aktuell ist Jörg Sundermeier Board-Mitglied im neu gegründeten PEN Berlin.
Nicht weniger aktiv ist Kristine Listau, ob bei den Bücherfrauen e.V., dem Börsenverein in Berlin-Brandenburg, immer geht es beiden um Vielfalt, Austausch und Sichtbarmachung.
Es ist ein Netzwerk „buchliebender Menschen“, in dem die beiden agieren. So finden regelmäßig Onlineevents für Blogger*innen statt, in denen gemeinsam mit befreundeten unabhängigen Verlagen die Programme vorgestellt und die gegenseitigen Favoriten empfohlen werden.
„Bücher können helfen, die Zeit zu verstehen“
Auch die inzwischen fest von Alyssa Fenner verantwortete
Pressearbeit zeigt, was ein Kernmotiv ist: Empfehlungen mit Herzblut und Persönlichkeit. Die als Praktikantin und Volontärin zum Verlag gekommene Kollegin ist als Bloggerin auf Instagram erfolgreich und weiß, wie wichtig Authentizität für eine gelungene Kommunikation ist.
Zumal die Relevanzverschiebung weg vom „klassischen Feuilleton“ hin zu Onlinekanälen auch bei den Verbrechern bemerkbar ist. Eine verstärkte Reduktion der Kulturberichterstattung, ob im öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder den Lokalzeitungen beklagt Sundermeier. Um eine Sichtbarkeit ihrer Bücher auch „in der Provinz“ zu schaffen, sind unabhängige Buchhandlungen unerlässlich. Hier finden die Kundinnen häufig das, „was sie brauchen, aber noch nicht wissen.“ Dabei hilft häufig auch das Vertrauen, andere Geschichten zu erzählen und so zu lernen „neu hin zu gucken“ und neben neuen Autorinnen auch in Archive zu gehen und Nachlässe zu sichten. „Bücher können überleben lassen. Auch wenn wir die Leben der Menschen nicht mehr retten können, müssen wir immer weiter auf sie hinweisen“, betont Kristine Listau. Jörg Sundermeier ergänzt, „Bücher können helfen, die Zeit zu verstehen.“
Die dezidierte Pflege der Verlagsbacklist, diese lieferbar zu halten und immer wieder als „Backlistperlen“ in den Fokus zu rücken, wird im sich rasend schnell wandelnden Buchmarkt zur Seltenheit. Dabei seien Bücher „keine Leberwurst, sie verderben nicht“, wie Jörg Sundermeier ganz ostwestfälisch feststellt.
Bei allem Idealismus, ist beiden stets auch die wirtschaftliche Dimension bewusst. Um eine Deckungsauflage von circa 1.000 verkauften Exemplaren zu erreichen, also die Herstellungskosten zu finanzieren, kooperiert der Verlag häufig mit Stiftungen. Besonders mit ihren politischen Sachbüchern, deren Themen von Nationalsozialismus, Rechtsextremismus, Sexismus und Antisemitismus, bis zur Theorie der Kulturindustrie, zu Literatur-, Film- und Musikgeschichte reichen, wollen sie die Gesellschaft solidarischer, freundlicher und toleranter machen.
Gelebte Bibliodiversität
Kristine Listau nennt es „Verlegen mit Herzblut und Würde“. Risiken sollen minimiert werden, ohne ganz darauf zu verzichten. Ein bis zwei Bücher in jedem Jahr würden absehbar ihre Kosten nicht decken können, diese „müssen aber in die Welt“. Das aktuelle Muss trägt seine Schärfe bereits im Titel: „Mauerpfeffer“. Dieser Essay ist ein nachdringliches Plädoyer für die ökologische Landwirtschaft, die für das globale ökologische Gleichgewicht unabdingbar ist. 2021 erschien der Debütroman der slowenischen Autorin Nataša Kramberger bereits bei den Verbrechern, dessen gesellschaftliche Dimension sie nun weitergedacht hat. Offenbar so eindringlich, dass der Essay auch ohne Übersetzungsförderung in diesem Herbst erscheint. Passend zu Sloweniens Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse.
Grundsätzlich machen sie nur noch „Bücher, die Spaß machen“, so Kristine Listau und meint damit, die zumeist „spannenderen Bücher“. Die mit ihrem Inhalt, Form oder Sprache „einfach überzeugen“. Es sei ein Privileg, dass die Titel, die sie verlegen, ihnen gefallen dürfen. Dass „nur“ fünf Menschen und die Autor*innen unmittelbar davon leben müssen, ist ein weiterer großer Unterschied zu den größeren Konzernverlagen. Zugleich seien Diversität und Fairness nie eine Marketingfrage gewesen, sind vielmehr für das gesamte Team ein innerer Antrieb. Durch diesen kleineren Apparat mit flachen Hierarchien und einem intensiven Austausch, können „allen freier und selbstbestimmter arbeiten“.
Damit ist der Verbrecher Verlag gelebte Bibliodiversität, ein aus Südamerika stammendes Prinzip, das angelehnt an die weit verbreitete „Biodiversität“ auf kulturelle Vielfalt statt Monokultur im Verlagswesen setzt. Es braucht unabhängige Verlage und Buchhandlungen, um auch Stimmen jenseits des bereits Bekannten sichtbar zu machen. Dafür brennt gerade Jörg Sundermeier, sein „Muss-Buch“.
Eigentlich wäre es auch ein „Muss“, das Verlagsmotto zu ergänzen: „Mehr wagen: „Verbrecher Verlag – gute Bücher!““.
Auf einem studentischen Wagnis heraus, ist ein wichtiger Akteur der deutschen Verlagsszene geworden, der 2025 sein 30-jähriges Jubiläum begehen wird. Verbrechen im Dienste der Bibliodiversität lohnen sich.