Er gilt als verkanntes Genie: Karl Freiherr von Drais, der vor gut 200 Jahren das erste Fahrrad erfand. Doch nicht nur das. Was das Vehikel aus heutiger Sicht so interessant macht: Es war aus Holz. Klobig und klapprig zwar – und als eine Art Laufrad konzipiert, saß der Erfinder am 12. Juni 1817 auf dem Sattel und setzte ein Bein vor das andere. Und so war es geboren: das Rad. Aus Holz. Zum Patent angemeldet am 12. Januar 1818.

Jetzt, bei all dem Suchen und Finden von Nachhaltigkeit und Ressourcen sparenden Überarbeitungen unserer aktuellen Lieblingsgüter, ist es zurück, das Rad aus Holz. Im April 2022 fand es reißende Aufmerksamkeit auf der Velo Berlin, einer Publikumsmesse rund ums Fahrrad und urbane Mobilität. „Doch eigentlich gibt es das Retrorad schon länger“, weiß Udo Schwedes, Werkstattleiter und Ausbilder im Tischler-Bildungszentrum (TBZ) des Kreises Gütersloh in Wiedenbrück. Zum Beweis zückt er sein Handy und zeigt mir Fotos von einem unfassbar schön und modern gestalteten Holzrad, dessen Besonderheit sofort ins Auge sticht: Es hat keine Mittelstange. „Mein Sohn hatte es als Abschlussarbeit im Technikkurs gebaut“, erfahre ich vom Lehrmeister.

Und da wären wir auch schon beim Thema: Was das Tischlerhandwerk so alles kann und was es gerade in der heutigen, von Umbrüchen begleiteten Zeit für Auszubildende so attraktiv macht. Denn das ist eine Menge!

Da ist zunächst einmal die Vielfalt der Betriebe
„Unser Tischler-Bildungszentrum ist nicht der Kammer unterstellt, sondern gehört direkt der Tischlerinnung im Kreis Gütersloh“, erklärt Obermeister Frank Grimm, der zum Vorstand gehört. Insgesamt 130 Tischlereien zählen zu ihren Mitgliedern, und sie alle sorgen gemeinsam für eine moderne duale Ausbildung des eigenen Nachwuchses. Ihre Betriebe selbst sind so vielfältig wie die Auszubildenden, die hier das Handwerk erlernen: Es gibt Zwei-Personen-Betriebe und andere mit bis zu 50 Angestellten. Die einen haben sich auf Innenausbau spezialisiert, andere bauen Möbel. Wieder andere sind als Fensterbaubetriebe gefragt oder als Trockenbauer tätig; selbst Bestattungsunternehmen können Tischlereien angegliedert sein.
„Uns allen ist die Ausbildung extrem wichtig, so dass die TBZ-Schulungen an Geräten stattfinden, die immer auf dem neuesten Stand der Technik sind.“ Computergestützte Maschinen wie CNC, auch die gesamten digitalen Arbeitsschritte sind hier Standard. „Diese Investitionen sind zwar erheblich, doch sie sorgen dafür, dass die angeschlossenen Betriebe mit einem bestens ausgebildeten Nachwuchs zukunftsfähig bleiben“, so der Obermeister weiter.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum hier aktuell kein Mangel an Auszubildenden herrscht. „Natürlich“, so Udo Schwedes, „suchen Tischlereien händeringend Gesellen und Meister. Doch gerade die Pandemie hatte uns einen Ausbildungsschub beschert. Mit derzeit 210 Auszubildenden können wir uns nicht beschweren und hoffen natürlich, dass das auch weiterhin so bleibt.“

Weiterbildung ist Meistersache
Um für die Auszubildenden in jeder Betriebsgröße und Sparte interessant zu sein, setzen die Innungsbetriebe auf eine bunte Mischung bei der Altersstruktur. Da sich auch die Einstellung zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit mittlerweile grundlegend geändert hat, sind Worte wie „Work-Life-Balance“ hier längst keine hohle Floskel mehr. „Wir gehen mit der Zeit und passen uns den Bedürfnissen der jungen Menschen an“, sagen beide.

Doch trotz allem ist und bleibt immer noch viel zu tun, um Jugendlichen das Handwerk überhaupt „schmackhaft“ zu machen. Gymnasium, Real- und Hauptschule, Sonderschule – die Auszubildenden kommen aus allen Schulformen. Und gerade hier ist die Innung aktiv: „Wir versuchen immer wieder den Schulen die Wertschätzung gegenüber den Handwerksberufen zu vermitteln. Ein Thema übrigens, das alle Gewerke betrifft.“

Mit Herzblut bei der Sache
Fragt man den Ausbilder, was junge Menschen dazu bewegt, Tischler zu werden, gerät er fast ins Schwärmen. „Die tollen Dinge, die der Tischler kann!“, antwortet er. Allein schon das Material bewegt und begeistert die Menschen; es ist ein warmer Werkstoff, mit einer wohligen Haptik,
das bei wahrscheinlich jedem vielfach zuhause ist. Ohne Holz ist unser Leben kaum möglich. Gleichzeitig arbeiten wir mit fast jedem anderen Material“, höre ich ihm zu. „Möbel sind ja nicht nur lackiert oder mit Furnier belegt“, erklärt er weiter. Und es stimmt: Beton, Glas, Kunststoff, Tierprodukte wie Rochenhaut, aber auch Gras, Blattwerk oder Kork – sie alle werden auf und mit Holz verarbeitet. „Kein anderes Handwerk der Welt verarbeitet so unterschiedliche Materialien wie der Tischler“, sagt der Ausbilder. Auch Frank Grimm stimmt mit ein: „Wir sehen, was wir bauen! Jeden Tag entsteht etwas durch unsere Hände und das ist alles ist mit Herzblut gefertigt.“

Ohne Kreativität geht es nicht
Und dann sind da noch die Fantasie und Innovation. Sie machen das Tischlerhandwerk aus. „Bei uns darf man nicht nur extrem kreativ sein, man muss es auch!“ Dass das so ist, zeigt sich vor allem bei der komplett selbst erarbeiteten Abschlussarbeit. „Es gibt kein anderes Gewerk, bei dem Auszubildende mit dem Gesellenstück eine Arbeit komplett selber fertigen müssen. Das ist einzigartig in allen Branchen.“

Nachhaltigkeit war hier schon immer Programm
Was jetzt in aller Munde ist, ist hier seit langem das Ziel: „Wir waren schon immer bestrebt, heimische Hölzer zu nutzen und möglichst kurze Wege einzuhalten. Wir kennen unser Material in- und auswendig“, stellt Frank Grimm fest. Deutschland und Europa sind die Hauptanbieter für schnellwachsende, aber auch langsam wachsende Hölzer. Doch auch bei der Verarbeitung darf nichts verwendet werden, das unzertifiziert ist. „Das fängt bei Formaldehyd freien Spanplatten an und hört bei wasserbasierten Lacken auf.“ Gleichzeitig greift das Handwerk den Zeitgeschmack auf: Was früher einmal das Kirschholz war, sind heute mit tierischen und pflanzlichen Ölen, aber auch mit Lacken behandelte Oberflächen aus Eiche. „Eigentlich müssen wir ganz dem Nachwuchs ganz einfach zeigen, dass auch Nachhaltigkeit für unser Gewerk schon immer ein wichtiger Baustein war und ist.“

Die Zukunft im Blick
Und damit wären wir auch schon beim letzten Punkt: Werfen wir einen Blick in die Zukunft des Tischlerhandwerks: „Es war immer attraktiv und wird immer attraktiv bleiben“, sagen beide. „Wir schaffen für Menschen ihr persönliches Umfeld – egal ob als Teil eines Hauses, im Innenausbau oder bei den Möbeln. Wir müssen und wollen uns ständig erneuen, um uns dem Kundengeschmack anzupassen. Schon allein deshalb sind wir immer auf dem aktuellsten Stand der Zeit.“ Was noch in den 1970-Jahren Plastik bei der Verarbeitung als Innovation galt, sind heute Beton, Marmor oder Granit – und das nicht nur als Original. „Fast jede Oberfläche kann heute künstlich und täuschend echt nachgebildet werden“ erklärt Udo Schwedes. „Wir Tischler können mit Digitaldruck und entsprechender Haptik ganz viel imitieren. Andererseits sind aktuell Massivhölzer wieder sehr gefragt.“ Frank Grimm fügt noch hinzu: „Hinzu kommt die ganze Technik, die wir in den Möbelstücken verbauen – wie Licht zum Beispiel. Ein Tischler ist in gewisser weise auch ein Lichtplaner. Mit anderen Worten: Tischler sind extrem vielseitig, kreativ und anspruchsvoll.“

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