Die Bedeutung der Holzverarbeitung im früheren Kreis Wiedenbrück

Besucht man ländliche Museen, so besichtigt man überwiegend Produkte aus Holz. Bis zur Erfindung des mineralölbasierten Kunststoffs blieb Holz ein unverzichtbarer, weil meist verwendeter Werkstoff. Vor der Industrialisierung bestanden weitgehend alle einfacheren Gegenstände, Werkzeuge, Fahrzeuge und Bauten aus Holz. Handgeschmiedetes Eisen, etwa Nägel, waren kostbar und teuer. Transport- und Aufbewahrungsbehälter wie Kisten, Fässer und Wannen, Haushaltsgegenstände, Schuhe und vieles mehr: Eine ganze Bandbreite von Holzhandwerkern verwandelten Bäume zu dem, was der Mensch zum Leben, Arbeiten und Wohnen brauchte.

Holz fürs Grobe, Holz fürs Feine

Der frühere Kreis Wiedenbrück entwickelte sich zu einem Schwerpunkt des holzverarbeitenden Gewerbes. 1855 gründete Christoph Ruhenstroth in Gütersloh ein Geschäft, das sich auf die Herstellung und Auslieferung von Grubenholz und Bahnschwellen fokussierte. Dem enormen Bedarf in den Bergwerken fielen ganze bewaldete Landstriche zum Opfer. Pferdefuhrwerke lieferten das Holz aus den Nachbargemeinden an, per Bahn wurde die Fracht zu den rheinisch-westfälischen Bergwerken beziehungsweise den Eisenbahnbaustellen versandt. 1883 waren es 713 Waggons Grubenholz und 124 Waggons Eisenbahnschwellen, jeweils zu 10 Tonnen. Unter Leitung des Sohnes Willy Ruhenstroth (daher WIRUS) entwickelte sich ein Sperrholz-, Spanplatten- und Furnierhersteller von nationaler Bedeutung mit mehr als 1.400 Beschäftigten um das Jahr 1960. Dass sich am Standort des früheren Hauptwerkes (später Pfleiderer) heute das größte PORTA-Möbelhaus ausdehnt, ist eine beziehungsreiche Nachnutzung des einstigen Firmengeländes.
Zeitgleich mit Ruhenstroth gründete Franz Goldkuhle in Wiedenbrück 1854 eine Kunstwerkstatt, in der 1865 bereits 25 Kunsthandwerker sakrale Einrichtungsgegenstände aus Holz fertigten: Mit der „Wiedenbrücker Schule“ war eine handwerklich-künstlerische Arbeitsgemeinschaft entstanden, die im Stil des Historismus neogotische oder -romanische Kircheneinrichtungen für einen internationalen Markt fertigte.
Zwischen dem groben Serienprodukt von Ruhenstroth und den fein geschnitzten Altären von Goldkuhle blieb viel Platz für eine ganze Palette weiterer Holzprodukte. Noch bis zur Mitte der 1960er-Jahre blieben Deutschlands Hausfrauen der bei Miele gefertigten Holzbottichwaschmaschine treu. Butterfässer, Wäschewringer, Leitern: Holz blieb dort noch lange der dominierende Werkstoff. Legendär waren die bei Miele hergestellten Bollerwagen in taubenblau. Im Auftrag der britischen Militärverwaltung entstanden nach 1945 auch Küchenschränke.
Der weltweit größte Hersteller von Mause- und Rattenfallen hatte in Gütersloh seinen Sitz: Gegen die globale Mäuseplage bewährten sich die „Luchs“-Mausefallen von Wilmking. (Dazu unser Bericht auf S. 24) Auch hölzerne Wäscheklammern entstanden in großer Zahl.

Bei Schlafzimmern ganz vorn

Nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, also in den 1920er- und 1950er-Jahren, kam es zu einem großen Heirats-Boom. Die Haushaltsgründungen führten zu einem enormen Einrichtungsbedarf, der von hiesigen Anbietern befriedigt werden konnte. 1934 zählte man im Kreis Wiedenbrück bereits 30 Möbelfabriken. 1938 gründete der Möbelarchitekt Josef Höner in Wiedenbrück die Musterring-Organisation. Mit dem „Musterring international“ entstand die größte europäische Gemeinschaft in der Möbel- und Einrichtungsbranche, der um 1960 80 Möbelfabriken und mehr als 350 Möbelhandelshäuser angeschlossen waren. Branchenkenner Wonnemann, selbst Möbelbauer, berichtete 1955, es werde „im Landkreis Wiedenbrück rund ein Drittel des Normalbedarfs des Bundesgebietes allein an Schlafzimmern hergestellt.“ Damit dürfte der Kreis, so schlussfolgerte er, „auf dem Schlafzimmerherstellungssektor in Deutschland, wenn nicht sogar in Europa, führend sein.“ Mit cirka 11.000 Beschäftigten in etwa 100 Betrieben nahm die Branche im Kreis Wiedenbrück den ersten Platz ein.
Auch in Gütersloh entstand eine blühende Möbelindustrie. Vor allem in den 1950er-Jahren mauserten sich kleine Tischler- und Schreinerwerkstätten zu modernen Möbelherstellern. So etwa die von Bernhard Schlautmann 1895 in Kattenstroth gegründete Bautischlerei. Daneben entstand 1955 das Furnierwerk Otto Schlautmann & Sohn. Tischlermeister Philipp Nordmann begründete 1903 an der Neuenkirchener Straße eine Möbelfabrik, die bis 1978 in
Betrieb war. Hinzu kam 1932 die Herstellung von Küchenmöbeln an der Schledebrückstraße. Weitere Betriebe bestanden mit den Möbelfabriken Arnold Henke an der Bachstraße und, bis 1977, Karl Flicker an der Verler Straße. Ein halbes Jahrhundert, von 1938 bis 1988, existierte die Möbelfabrik Otto
Großehambrinker an der Carl-Bertelsmann-Straße.
1955 arbeiteten ein Viertel aller gewerblich Tätigen in Gütersloh in der holzverarbeitenden Industrie. Ende der 1970er-Jahre wendete sich das Blatt. Verschärfte Umweltauflagen verhinderten eine innerörtliche Ausdehnung und führten zur Aufgabe oder Auslagerung ins Umland, vor allem in ländliche Gemeinden des Kreises Warendorf. An ihrer Stelle folgte fast ausnahmslos einer Wohnbebauung mit den dafür erforderlichen Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen.
Dennoch hat sich das Thema Möbel aus Gütersloh und Umgebung nicht ganz erledigt. Zwei Firmen mit Ursprung in Avenwedde ist dies zu verdanken.

Flötotto, 1906 gegründet, hat sich als Trendsetter von Schul- und Systemmöbeln immer wieder neu erfunden. Aus
Johann und Willy Sticklings Kleinmöbeltischlerei von 1945 wurde ein Global Player: Der größte europäische Küchenhersteller Nobilia produziert mit mehr als 4.200 Mitarbeitern täglich 3800 Küchen und erwirtschaftete damit 2021 einen Jahresumsatz von beinahe 1,5 Milliarden Euro.

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