Monte Rosa: Im Festsaal des Eisgebirges

Bergfreunde kennen das. Wenn der Winter endlich der Sonne den Weg freigibt, schweifen die Gedanken immer häufiger zu den sommerlichen Hochgebirgszielen. Der Bazillus, dem die Bergsteiger verfallen sind, ruft nach Wiederholung. Was für ein Gefühl, nach langer, keuchender, stumpfsinniger und doch großartiger Steigerei endlich oben zu stehen! Ringsum nichts als Wolken, Felsen, Eis und Schnee. Weite, die wohltut, Luft, die reiner nicht sein kann. Und der Hauch von Abenteuer, der dich für einen kostbaren Moment über den lähmenden Alltag triumphieren lässt.

Einsamkeit schmälert den Genuss; die Gruppe ist es, die den Spaß bereitet. Das „Die letzten Meter waren der Hammer“ und das „Ob wir da noch mal hinkommen?“ Und der ersehnte Schluck warmen Pfefferminztees aus der Thermoskanne – im Tal eine labbrige
Zumutung, hier köstlicher Trunk. Wir sind zu dritt, seit Jahren schon, sammeln unsere Viertausender in den
Alpen, auf die wir uns stets schon viele Monate vorbereiten, im Fitnessstudio, beim Laufen, beim Studium der Linien, die zum Ziel führen. Das Mentale ist so wichtig wie die Kondition. Dabei geht es uns dreien – Hermann, Jan-Pieter und mir – immer um Freuden der einfachen Erfahrungen. Warmes Essen in der Hütte, eine trockene Schlafstelle, Stille, gute Luft und das Gefühl von Einklang mit der Natur.
Es ist wohl der Kontrast zum normalen Alltag, der uns zivilisationsmüde Menschen in den Bergen aufatmen lässt. Die erschöpfende Anstrengung des Auf- und auch des Abstiegs ist gleichzeitig Erholung, nie fühle ich mich gestärkter als nach einer Bergbesteigung über zwei, drei Tage, so sinnlos dieses Tun im Kern auch erscheinen mag.

On fire und in Topform
Wir sind auf der Monte Rosa unterwegs. Sechs Viertausender in vier Tagen. Therapie gegen Alltagsfrust, mangelnden Appetit und Mutlosigkeit. Blasen an den Fersen und Jubel in den Augen. Wir kommen aus dem Aosta-Tal, Tage vorher haben wir auf seiner gegenüberliegenden südlichen Seite einen Dreitausender und den einzigen freistehenden Viertausender in Italien, den Gran Paradiso (4.061 Meter), bestiegen, sind on fire und in Topform. Das Wetter meint es gut mit uns in diesem Sommer 1996, die Regensachen bleiben gut verstaut im Rucksack. Wir erleben unvergessliche Tage; wie eingebrannt bleiben noch Jahre später alle Wege, die wir auf diesem gigantischen Bergmassiv gehen, im Gedächtnis.

Vom Tal Gressoney la Trinite (1.635 Meter) mit der Seilbahn bis zur Rifugio del Lys (2.342 Meter), zu Fuß weiter über die Rifugio Citta di Vigefano (längst stillgelegt) bis zur Mantova-Hütte in 3.497 Meter Höhe. Weit ist der Weg über Geröll. Plackerei bei dichtem Nebel. Voller Tatendrang sind wir am nächsten Morgen, aber das Wetter spielt zunächst nicht mit. Draußen tobt eiskristallener Wind. Gestandene Männer wirft es auf ebenem Gletscher um. Die Temperatur liegt bei minus 15 Grad Celsius, notierte ich im Tourenbuch, das ich vor einiger Zeit wiedergefunden habe. So kann ich diese Geschichte erzählen.

Geduckt wie die Schneehasen
Wir bleiben nach dem 5-Uhr-Frühstück in der Hütte. Zwei Stunden später holt ein Helikopter eine verletzte Bergsteigerin – sicheres Zeichen für eine Wetterbesserung. Vorbei an der 200 Meter höher gelegenen Gnifetti-Hütte, mäandern wir zwischen den Spalten des bald steiler abfallenden Gletschers, sichern uns gegenseitig mit Eisschrauben bei den Schneebrücken und trotzen heftigsten Böen, die uns im Aufschwung auf den Vinzent-Sattel schier aus den Steigeisen reißen wollen. Geduckt wie die Schneehasen kauern wir im Schnee. Irgendwann ist alles vorbei. Unsere Dreier-Seilschaft funktioniert reibungslos, Hermann geht voran, ich bin in der Mitte, Jan-Pieter bleibt hinten. Wir sind zusammen und doch ist jeder für sich. Die Stapferei ist ein Ringkampf mit dem Willen, vorwärts zu kommen, die Freunde nicht im Stich zu lassen. Gleichzeitig hat es etwas Meditatives. Ich bin jetzt ganz bei mir, pures Sein in dieser phantastischen Welt der sonnengefluteten, glitzernden weißen Natur.

Plötzlich breche ich ein und rutsche bis zum Hals in eine Gletscherspalte. Ich kann den Schreck, die Panik, noch heute nachempfinden: Da, wo die Spuren aller Bergsteiger vor uns den sicheren Weg anzeigten, reißt es mich runter. Ich schreie, und Hermann ist geistesgegenwärtig genug, seinen Eispickel sofort in das Eis zu schlagen, so hält mich das Seil, das uns verbindet, in Sicherheit. Puls runter, du hast es tausendmal gelesen, was zu tun ist, und wir haben es in Kursen durch freiwillige Sprünge in die Tiefe gelernt: Orientierung, Einsatz der Steigeisen, wo es geht, um die ziehenden Freunde zu entlasten, mit den kurzen Reepschnüren aus der Jackentasche am Seil hochprusiken … Ich habe Glück, denn die Spalte erweist sich als harmlos, kein Schlund unter mir, nur ein Gletscher-Haarriss gewissermaßen, schnell bin ich wieder raus aus dem Eisgefängnis, und wir liegen schreckerschöpft wie Marienkäfer auf unseren Rucksäcken.

Wenig Puste zum Jubeln
Und staunen, als wir wieder auf den Beinen stehen: Es ist, als habe sich ein Vorhang geöffnet. Wir betreten den Festsaal des vielgipfligen Eisgebirges der Monte Rosa. Das Knarren der Pickel im Firn, die Silhouetten anderer Seilschaften auf silber schimmerndem Eis, und Wolken so stolz wie das Spinnakersegel einer Hochseeyacht – viel Puste zum Jubeln haben wir heute nicht, aber die Faszination ist da. Eine Stunde später stehen wir auf dem Gipfel der 4.215 Meter hohen Vinzentyramide. Am nächsten und übernächsten Tag sind nach den Übernachtungen in der tiefergelegenen Mantova-Hütte unsere weiteren Ziele an der Reihe: das Balmenhorn (4.167 Meter), die Ludwigshöhe (4.344 Meter), die Parrotspitze (4.443 Meter), die Signalkuppe/Punta Gnifetti (4.554 Meter) und die Zumsteinspitze (4.562 Meter).

Schaffen wir auch noch die Dufour-Spitze mit ihren 4.634 Meter Höhe, der höchsten dieses Viertausender-Amphitheaters der Monte Rosa, von der aus wir einen grandiosen Ausblick auf die gewaltigen Eisflanken der Ost- und Westspitze des Lyskamm und ganz hinten auf die ikonische Ostwand des Matterhorn haben? Wir kämpfen, aber die Zeit wird knapp. Es geht zu langsam voran – und die Kräfte lassen nach – gefährlich bei dem immer steiler werdenden Gelände. Im richtigen Moment das Vernünftige zu tun, falschen Ehrgeiz zu besiegen, gibt uns ein gutes Gefühl. Trotz des Verzichts auf den höchsten Gipfel der Monte Rosa machen wir uns auf den langen Weg zurück in die schützende, wärmende Hütte. Wie herrlich die
Suppe abends schmeckt. Gierig trinken wir unser Bier. Unsere Gesichter sind sonnenverbrannt, die Haare verschwitzt – und hier und da tut’s weh. Die Blasen an den Füßen sind unsere Gipfel-Trophäen.

Eine Orgie fürs Auge
Schnell sind die Tage vorbei. Wir haben mehr Sonne getankt als sonst, sind voll mit Bildern fürs ganze Leben. Die Aussicht von der Signalkuppe mit der Rifugio Margherita, der höchstgelegenen Hütte in den Alpen: eine Orgie fürs Auge. Die norditalienischen Seen lagen uns zu Füßen und der Gebirgszug der nördlichen Apennin erstreckte sich in seiner sichelartigen kompletten Länge bis in die Toskana – Logenplatz wie aus dem All.

Als wir unser Zelt im Tal packen, kommt der große Regen. Das monotone Geräusch des Scheibenwischers auf der Heimfahrt stimmt melancholisch. Die dicke Luft im Tal kommt uns schwer vor. Müssen wir das tatsächlich täglich atmen?