Einblicke in die Ausbildung und das Arbeitsfeld rund um den Hörsinn
Interview: Tatjana Wanner | Fotos: Hörakustik Vollbach
Schon 2013 war jeder fünfte Bundesbürger hörgeschädigt – Tendenz steigend aufgrund der demografischen Entwicklung sowie zunehmender Hörprobleme bei jungen Menschen. 1) Die Hörakustik-Branche wächst und immer mehr Menschen sind auf die Expertise eines Hörakustikers angewiesen. Aber was sind eigentlich die Aufgaben eines Hörakustikers? Wie ist die Ausbildung aufgebaut und welche Fähigkeiten und Interessen sollte man mitbringen, um in diesem Berufsfeld zu arbeiten? Hörakustiker-Meister Marius Hesse-Gieseker steht Rede und Antwort.
Herr Hesse-Gieseker, was ist dran an dem Immanuel Kant zugesprochenen Zitat „Nicht sehen können trennt von den Dingen. Nicht hören können trennt von den Menschen“?
Da ist sicherlich sehr viel dran. Dennoch ist es selbst für mich als Hörakustiker nicht möglich, den Hörsinn zu simulieren. Er lässt sich nicht einfach aufschalten. Ich kann nur aus den Erzählungen meiner Kunden lernen und versuchen mir vorzustellen, was es bedeutet schlecht oder gar nicht zu hören. Der Hörsinn ist unerlässlich für Alarmierungssituationen und natürlich für die Kommunikation im Alltag. Er wird jedoch oft als gegeben wahrgenommen und sehr unterschätzt. Erst wenn Hörminderung und Hörverlust eintreten, wird deutlich, dass der Betroffene an zahlreichen Situationen nicht mehr teilhaben kann.
Warum ist Hören so wichtig für den Menschen?
Es passiert viel mehr beim Hören, als man so denkt. Da ist zum einen der mechanische Hörvorgang, der vom Ohr geleistet wird und zum anderen die Leistung des Gehirns. Gefühle, Erinnerungen finden im Gehirn statt. Auch der Körper „hört mit“. Der Song von Herbert Grönemeyer „Musik nur, wenn sie laut ist“ beschreibt eindrücklich, dass Musik auch bei Taubheit fühlbar ist: Im Refrain singt Grönemeyer davon, dass „sie ihr in den Magen fährt“ oder „der Boden unter den Füßen bebt“. Musik ist bei entsprechender Lautstärke mit dem ganzen Körper spürbar.
Sprachverständnis ist ganz besonders wichtig. Kinder hören schon vor der Geburt und müssen dann in den ersten Lebensjahren das Verstehen erlernen. Sie trainieren das von Beginn an – von der U2 (3. bis 10. Lebenstag) bis zur U9 (etwa 5. Lebensjahr) spielt die Untersuchung des Gehörs bzw. des Hörvermögens eine große Rolle. Je früher eine massive Hörminderung festgestellt wird, umso besser. So versuchen Fachärzte beispielsweise bereits zwischen dem 3. und 6. Lebensmonat die betroffenen Babys mit einer Hörprothese, dem Cochlea-Implantat, zu versorgen, um die Gehirnentwicklung bestmöglich zu fördern. Dabei umgeht das Cochlea-Implantat die beschädigten Haarsinneszellen und stimuliert den Hörnerv direkt elektrisch.
Man stelle sich außerdem vor, wie viele Nuancen und Feinheiten in der Sprache liegen. Wer mit Hörschwierigkeiten zu kämpfen hat, dem fällt es unter Umständen schwer, beispielsweise Ironie zu erkennen. Auch einen beleidigten Tonfall in der Stimme ist wohlmöglich nicht oder nur schlecht herauszuhören. Das bedeutet, dass über die klassischen Missverständnisse hinaus, noch viel mehr nicht nachvollziehbar ist für Menschen mit Hörproblemen.
Sie sind seit November 2019 Hörakustiker-Meister. Was hat Sie dazu bewegt, diesen Handwerksberuf bis zur Erlangung des Meisterbriefes zu erlernen?
Ich bin im Prinzip ein „Spätberufener“, denn zunächst habe ich nach Abitur und Bundeswehr mit einem Maschinenbau-Studium begonnen. Relativ schnell stellte sich aber für mich heraus, dass es das nicht so recht war. Ich suchte nach einem Berufsfeld, das es mir ermöglicht, meine Technikaffinität, meine Fähigkeiten im Umgang mit dem Computer und mein Interesse an den Menschen miteinander zu verbinden. Das Hören hat mich tatsächlich schon immer interessiert, sodass ich dann bei meinem jetzigen Arbeitgeber im Mai 2014 ein zweiwöchiges Praktikum absolvierte. Mit dem Ergebnis, dass ich mich für diesen Nischenberuf entschieden habe und dann auch ein Jahr nach dem Abschluss der dreijährigen Ausbildung berufsbegleitend die Meisterkurse besucht habe.
In welchem Verhältnis sollten persönliche Fähigkeiten wie „technisches Verständnis“, „handwerkliches Geschick“ und „soziale Kompetenz“ stehen, wenn man sich für den Beruf des Hörakustikers entscheidet?
Ich sehe das immer als Dreiklang dieser drei unterschiedlichen Fähigkeiten – und zwar geht es um das Zusammenspiel von biologischen, medizinisch-technischen und beratenden Kompetenzen. Zum ersten stehen die Funktionalität des Hörorgans und das Erkennen von Krankheiten, die bei Hörminderung, Hörverlust oder Höranstrengung vorliegen könnten, im Mittelpunkt. Dies geschieht in enger Zusammenarbeit mit den Hals-Nasen-Ohren-Ärzten. Zum zweiten braucht es für diesen Handwerksberuf ein medizinisch-technisches Verständnis. Die Aufgaben reichen Herstellen individueller Ohrpasstücke – der Otoplastik – bei der eine Abformung vom Ohr gemacht wird, bis zur digitalen individuellen Einstellung der Hörgeräte – wir nennen sie auch gerne Hörsysteme – per Computer. Zum dritten bin ich als Hörakustiker ganz nah dran am Kunden. Ich frage, wo die Schwierigkeiten liegen. Muss wissen, welche Hörsituationen Probleme bereiten und welche Hörwünsche beziehungsweise persönlichen Hörziele mein Gegenüber hat. Vor allem während der Erprobungsphase begleite ich meine Kunden, um das Hörsystem so optimal wie möglich an deren Bedürfnisse und Wünsche anzupassen.
Wie ist die Ausbildung strukturiert? Was sind die Perspektiven in diesem Beruf?
Bis vor wenigen Jahren war der zentrale Ausbildungsstandort die „Bundesoffene Landesberufsschule für Hörakustiker und Hörakustikerinnen“ in Lübeck. Ich selbst bin dort noch unterrichtet worden. Da kam echtes Ferienlagerfeeling auf, wenn sich dort Schüler aus ganz Deutschland zum Blockunterricht trafen. Meines Wissens gibt es jetzt mittlerweile auch die Möglichkeit, in Nordrhein-Westfalen an zwei Standorten im Ruhrgebiet die Berufsschule zu besuchen.
Die beruflichen Perspektiven sind vielfältig. Man kann zunächst nach einem Gesellenjahr die Meisterschule besuchen oder auch den akademischen Weg wählen und Hörakustik an den Hochschulen in Lübeck und Aalen studieren, um beispielsweise in die (Auto-)Industrie zu gehen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Fortbildungen, zum Beispiel zum Pädakustiker, die sich um die Hörgeräteversorgung zur Hör- und Sprachentwicklungsunterstützung bei Kindern kümmern. Oder die Spezialisierung auf das Cochlea-Implantat für die professionelle Beratung und Betreuung im Fachgeschäft vor Ort.
Was treibt Sie an? Was motiviert Sie?
Am meisten freue ich mich über die positiven Rückmeldungen meiner Kunden. Manchmal sind es eher sogar die Angehörigen, deren Erleichterung und Dankbarkeit bei mir ankommen. Schön ist einfach auch mitzuerleben, dass die anfängliche Skepsis bei manchen Kunden nach der schrittweisen Anpassung des Hörgerätes einer echten Begeisterung weicht und sie mir dann erzählen, dass sie jetzt wieder Erlebnisse haben, die vorher unmöglich geworden waren. Das können auch so einfache Dinge wie Vogelgezwitscher oder die Erzählungen der Enkelkinder sein. Außerdem finde ich es spannend, dass uns die Hersteller immer mit der neuesten Technik versorgen. Wenn das klappt, aus diesen kleinen Hochleistungscomputern das Bestmögliche herauszuholen, dann ist das einfach Motivation pur.
1) vgl. Ärzteblatt Letzter Aufruf am 20.09.2021: https://www.aerzteblatt.de/archiv/136885/Cochlea-Implantate-Wenn-Hoergeraete-nicht-mehr-helfen