Man müsste ein Menschenrecht auf Stille und Weite einklagen können, träumte einmal Bergsteiger Reinhold Messner von einer menschlicheren Welt – ein Gedanke, der mich beim Lesen sofort ansprach. Seitdem suche ich Stille und Weite so oft es geht. Wie beruhigend es ist, beim Wandern durch Feld und Flur das Auge bis zum Horizont richten zu können, wie seelentröstend leises Gurgeln eines Waldbaches wirken kann und wie faszinierend das letzte Treiben der Vögel am Abend ist! Selbst das Getacker des Baumspechts schallt wie ein Ruf aus Kindeszeiten durch den Dom der Bäume. All diese Geräusche sind das Gegenteil von Lärm, sie sind wie der Gesang der Stille, der uns für einen Moment vom zukleisternden Lärmschwall des Alltags befreit – wichtig zum Luftholen, zum Beisichsein, zum Runterkommen.
Nicht Grabesstille ist gemeint, sie ist nicht menschlich, denn wir sind in der Welt und die Welt ist in uns. Das akustische Nichts irritiert uns, kann deprimierend wirken und sogar zu Halluzinationen führen, weil das Gehirn den Reizmangel auszugleichen versucht. Wir sind ja ständig in einer inneren Kommunikation; der Mahlstrom unserer Gedankenwelt springt wie eine Flipperkugel durch die Weiten ungeordneter Phantasie und es ist immer ein Frage-Antwort-Spiel. Wir sprechen dann mit uns selber, finden einen Gedanken, der uns vielleicht nicht mehr loslässt, uns sogar belästigt. Kinder reagieren auf totale Stille mit Angst; sie fürchten die Leere und die Verlorenheit.
Stille gibt Kraft und Energie
Wie schön dagegen ist es, die Stille der Welt in sich aufzunehmen, sich eins zu fühlen mit der Natur. Das Rascheln von Blättern, das Säuseln des Windes, das Knirschen des Schnees, meine Schritte auf Sand und Kies und in der Ferne bellt ein Hund. Diese Stille klingt nach unserer Erde, sie gibt uns neue Kraft und Energie. Im Gegensatz zu den vielen ungewollten Geräuschen, die uns stressen, nervös machen, erschöpfen. Warum diese nervende Beschallung im Supermarkt, was soll diese ständig verordnete gute Laune aus den Lautsprechern, dieses Gejaule, diese lächerlichen Beats bis zum Erbrechen, diese Wiederholungen des ewig Gehörten? Schon lange verzichte ich aufs Radiogedudel beim Frühstück, ich werde innerlich aggressiv, wenn Automotoren sinnlos aufheulen und das Stresshormon Cortisol meinen Körper flutet und lautes Gerede am Nachbartisch kann mich meine Argumentationskette im Gespräch kosten.
Premiumzeit zum Reflektieren
Wir brauchen mehr Stille, um unseren eigenen Rhythmus zu finden, der uns dann wieder zurück in die Welt führt. Stille kommt nach den Gesprächen, nach dem Gehörten auf der Straße, im Fernsehen, am Telefon. Das ist unsere Premiumzeit zum Reflektieren, zum Gedankenaustausch mit der Partnerin oder dem Partner, mit der Familie oder mit Freunden. Nur wer diesen Rhythmus pflegt, kann wachsen. Wer läuft, ist hier im Vorteil. Das Laufen, wie auch das Gehen, befreit aus räumlichem Korsett, man sucht das Weite, das öffnet Geist und Lungen. Eine Erfahrung, die uns auch in der Coronazeit geholfen hat: den jetzt gebotenen Abstand zwischen uns normalisieren wir mit lockerem Seitschritt, manches Enge hat seinen Reiz verloren.
Stille und Weite: sicher kein Jugendthema. Aber schon als junge Erwachsene gehen unsere Gedanken häufiger auf Reisen, wir suchen den inneren und den äußeren Horizont, das Leben ist so viel mehr, als die Routine im Beruf und zu Hause uns glauben machen will. Wir ahnen es und sind auf der Suche, alles in den Einklang zu bekommen. Wer einmal auf dem Gipfel eines Berges gestanden hat, der kennt dieses Gefühl der Ausdehnung der Welt. Klare, saubere Luft, weite Sicht, keine fremden Geräusche, nur das Kullern kleiner Steinchen, das Pfeifen des Murmeltiers, vielleicht noch ein Rauschen aus der Tiefe des Tales, kaum wahrnehmbar, aber existent. Es hat einen Grund, dass immer mehr Menschen wandern gehen, Fahrradtouren unternehmen, den verführerischen Angeboten der Bespassungs- und Ablenkungsindustrie widerstehen. Unsere Wege an den Flüssen im Kreis Gütersloh werden wiederentdeckt, in den Wäldern begegnen sich Menschen aus allen Kulturen und Generationen im stillen Gemeinschaftsgefühl.
Neue freie Kapazitäten im Kopf
Dieser Sound of Silence – er ist vor unserer Haustür, nur einen Schritt entfernt, er ist sofort zu haben. Und er ist kostenlos. Man braucht für die innere Balance und Gesundheit nicht teure Retreats in Klöstern, Meditationswochenenden und Schweigeseminaren zu buchen. Wir können die Stille auch in unseren Alltag holen, damit unser Körper und Geist zur Ruhe kommen können. Wir werden es teilweise wieder lernen müssen, mit Stille umzugehen, aber wir werden reich belohnt: Unsere Geduld und Gelassenheit nehmen zu, wir werden achtsamer, konzentrierter und wir steigern unsere Produktivität und Arbeitsqualität. Mehr noch: Wir begegnen uns selbst, schaffen Klarheit in unserer Gedankenwelt und neue freie Kapazitäten im Kopf. Stille ist Erholungszeit.
Nein, es gibt kein verbrieftes Recht auf Stille und Weite. Aber wir haben das Recht, unsere Umwelt so zu gestalten, dass sie unsere Gesundheit nicht gefährdet. Dazu gehört die Erhaltung von Ruheinseln und unbebauten Landschaftszonen wie das Recht auf Dunkelheit in der Nacht, auf weniger Straßenverkehrslärm, auf Radkomfort in den Städten und auf Pflege der Naherholungsbereiche. Wir sind zweifellos längst auf dem Weg.
Wir haben es in der Hand
Wie aber schaffen wir es, den Nachrichten- und Redefluss auf Handy und Laptop zu unterbrechen, der für unseren inneren Lärm sorgt und so oft nur der ablenkenden Unterhaltung dient? Denken wir uns auf den Berg zurück. Der Lärm der Welt ist dort weit weg, in diesem friedlichen Moment würde er uns nur stören. Wir sind ganz bei uns und fokussiert – ohne technische Hilfe, ohne permanente Verfügbarkeit. Dieser Berg kann auch der Linteler See oder das Hühnermoor sein. Ein 5.000-Meter-Lauf oder ein Buch. Wir haben es in der Hand.