Corona aktualisiert alte Lebensweisheiten
Zeitgleich mit dem Ausbruch der Pandemie Anfang 2020 begann das Jahr des Gedenkens an den 250. Geburtstag des Dichters Friedrich Hölderlin. Der Literaturkritiker Dennis Scheck sagte, nirgendwo finde er größere Ermutigung und besseren Rat als bei ihm. Sogleich war das passende Zitat gefunden: „Denn wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Dies schien sich zu bestätigen, wurde doch in der Impfung die einzige Rettung gesehen und daher in rasanter Geschwindigkeit Vakzine entwickelt, deren Zulassung binnen weniger Wochen erfolgte, was andernfalls mehrere Jahre in Anspruch genommen hätte. – Not macht erfinderisch, sagt man. Am meisten überraschte dabei das Ausmaß der Beschleunigung von Entwicklungen und die Vielzahl der Ebenen, auf denen sie sich vollzogen, so, als ob man nur auf den Notfall gewartet hätte, damit sich vieles Bahn brechen konnte, was bereits schon angelegt war und im Grunde nur noch aktiviert zu werden brauchte.
Der Notfall führte faktisch zu einem Ausnahmezustand, der verfassungsmäßig nicht vorgesehen ist. Anfang der 1930er Jahre bauten Notverordnungen des Reichspräsidenten legale Brücken in die NS-Diktatur. In der Bundesrepublik sollte das nicht mehr möglich sein. Zur Bekämpfung der Seuchengefahr konnte lediglich nach Artikel 11 des Grundgesetzes die Freizügigkeit eingeschränkt werden, was mit der Ankündigung und Durchsetzung des Lockdowns auch geschah. Wodurch aber der Notfall bestimmt und wie er definiert wird, ist und bleibt strittig. Der Weg auf dem schmalen Grat zwischen harten Anordnungen eines starken Staates wie in China und der liberalen, auf die Selbstverantwortung des Individuums setzenden Bürgergesellschaft wie in Schweden musste tagtäglich neu ausgehandelt werden. Das war mühsam, aber nicht erfolglos. Die Ausnahmesituation führte zu raschen Fortschritten, nicht der Normalfall. Um es mit dem Staatsrechtler Carl Schmitt auszudrücken: „In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in der Wiederholung erstarrten Mechanik.“ – Eine Dynamik, die nicht erschlaffen darf.
Facis de necessitate virtutem, „Mach aus der Not eine Tugend“, das lehrte bereits der Kirchenvater Hieronymus im vierten Jahrhundert nach Christus. Patientia, die Geduld als Fähigkeit, eine schwierige Situation zu ertragen, war besonders gefordert. „Aus der Situation das Beste machen“ wurde zum Gebot der Stunde. Was erreicht wurde, muss nun über die Pandemie hinaus Bestand haben. Zoom als Synonym für Videokonferenzen revolutionierte die Kommunikation. Der Zugewinn an Lebenszeit ohne im Stau zu stehen, das Vermeiden unnötiger Mobilität als Schonung von Ressourcen und Entlastung der Umwelt, die mit Teams zu organisierende mobile Arbeit als Wiedervereinigung des Arbeits- und Wohnplatzes und in den meisten Fällen auch als Beitrag zur Verbesserung der vielbeschworenen Vereinbarkeit von Familie und Beruf: all das sind Errungenschaften, auf die nie mehr verzichtet werden darf. Die Verlagerung ganzer Lebensbereiche in den virtuellen Raum, digitales Lernen, Livestream-Übertragungen und all das, was dem in der analogen Welt verhafteten Historiker gar nicht einfällt: Von allem ist mindestens ein Anfang gemacht und jetzt kann man sich das Beste raussuchen, um es weiter zu vervollkommnen. Gar nicht auszudenken, wo Deutschland hinsichtlich seiner Entwicklungsdefizite in dieser Hinsicht stehen würde, hätte es die Not nicht gegeben. Die wird durch den Blick in die Vergangenheit relativiert ohne sie zu leugnen. Auch zeigt uns die Geschichte das Gelingen, mit deutlich schwierigeren Situationen fertig geworden zu sein. Kein gewaltsamer Tod, keine Zerstörungen, nur eine Krise als Chance, die sich schon jetzt als historischer Fortschritt erweist. „Es musste erst schlechter werden, bevor es besser wird“, auch das ist so eine überzeitlich gültige Erfahrung.
Schon Hölderlin war vom positiven Blick in die Zukunft bewegt:
Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er kräftig genährt, danken für alles lern
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.