Warum Design Thinking Veränderungsprozesse leichter macht

Foto: Detlef Güthenke

Mal unter uns: Ist es Ihnen eigentlich schon mal gelungen, sich neu zu erfinden?Und können Sie im Bruchteil einer Sekunde aus einer Box heraus denken? Fast jeder von uns kennt solche Aufforderungen und hat oft selbst schon erlebt, wie schwierig es ist, kreative Prozesse auf Knopfdruck abzurufen. Aber zum Glück gibt es Methoden, die uns in solchen Fällen das Leben leic ter machen. Dazu zählt auch das Konzept des Design Thinking, das in den vergangenen Jahren einen geradezu inflationären Aufschwung durchlaufen hat.

In einer sich stetig wandelnden Welt wächst der Bedarf nach kreativen Lösungen. Unternehmen, Verbände und Organisationen müssen sich in immer kürzeren Abständen zunehmend komplexer werdenden Aufgaben stellen, deren Bandbreite von Strategiethemen und Veränderungsprozessen über Teambuilding-Maßnahmen bis hin zu Anpassungen und Optimierungen in der Zusammenarbeit mit externen Partnern reicht. „Design Thinking ist natürlich keine eierlegende Wollmilchsau, die immer und überall funktioniert. Dennoch ist und bleibt das Konzept ein herausragendes Instrument, um komplexe Aufgaben- und Problemstellungen zu betrachten, zu analysieren und zu bearbeiten“, sagt Dr. Knut Menzel, Geschäftsführer der Agentur Denkerprise®, die Denker-Enterprise, die ein eigenes Design-Thinking-Studio am Standort Gütersloh unterhält.

Design Thinking: Schritt für Schritt zur Lösung
Mehr als 150 Kunden, größtenteils klein- und mittelständische Unternehmen und Organisationen wie beispielsweise Stadtwerke Gütersloh, Lekkerland und die Stiftung Deutsche Leukämie & Lymphom-Hilfe, hat der systemische Coach in den vergangenen zehn Jahren betreut und mit den Instrumenten des Design Thinking sowie Agilitäts- und Kollaborationsmodellen vertraut gemacht. Bis heute folgte seine Arbeit dabei immer dem gleichen Muster: „Um das Problem zu durchdringen, decken wir zunächst Glaubenssätze und blinde Flecken auf, nehmen verschiedene Perspektiven ein und betrachten das Problem erst einmal von allen Seiten. Dann beginnt der eigentliche Prozess: Wir führen viele Gespräche, verstehen die Zusammenhänge und Anforderungen, fokussieren uns auf spezifische Fragestellungen, sammeln Ideen und entwickeln Lösungsansätze. Erst dann wird ein Prototyp gestaltet und eine Testphase eingeleitet, beobachtet und iteriert. Wir suchen also nicht direkt im ersten Durchgang die ultimative Lösung, sondern nähern uns in kleinen Schritten dem Ergebnis.“ Was auf den ersten Blick nach einem recht zähen Prozess klingt, ist aber alles andere als das, weiß Dr. Menzel aus der Praxis: „Ein gut geführter Design-Thinking-Prozess macht die gemeinsam geleistete, konzeptionelle Arbeit erlebbar, emotional und haptisch, aber auch zielgerichtet und ergebnisorientiert – wenn alle Teammitglieder auf Augenhöhe arbeiten und Ideen und Perspektiven zugelassen werden, ohne sie direkt zu bewerten. Nur so können die Synergien entstehen, die Design Thinking Prozesse auszeichnen und erfolgreich machen.“

Erst ausprobieren, dann umsetzen
Eine Einschätzung, die Silke Niermann, Geschäftsführerin der Stadtbibliothek Gütersloh, vorbehaltlos teilt: „Dank der Anwendung des Design Thinking-Konzepts haben wir in den vergangenen vier Jahren nicht nur Bereiche unserer Bibliothek baulich umgestaltet und mit neuen Angeboten zukunftsfähig gemacht, sondern uns auch als Team enorm weiterentwickelt. Davon profitieren wir noch heute.“ Eine Kollegin hatte sie 2018 bei einer Fachtagung auf das neue, innovative Modell aus Nordamerika aufmerksam gemacht. Nach einer zweitägigen Weiterbildung und einem Termin mit Kollegen, die das Tool bereits in der Anwendung hatten, stand für Silke Niermann und ihr Team fest: Dieses Konzept ist für ihr Vorhaben der richtige Ansatz. „Uns hat vor allem die Offenheit beeindruckt, die dem Konzept zugrunde liegt: Gespräche führen, zuhören ohne zu bewerten, und Fragen stellen. Erst im zweiten Schritt werden auf Basis der Gesprächsergebnisse Ideen gesammelt und Initiativen überlegt. Das kannte ich in dieser Form nicht, war aber sofort begeistert von der Herangehensweise.“ Und noch ein weiterer Punkt begeistert sie am Design Thinking. „Es wird nicht sofort umgesetzt, sondern erstmal ausprobiert. Was klappt, was klappt nicht, wo müssen wir noch Anpassungen vornehmen? Erst wenn die Tests funktionieren, geht man den nächsten Schritt – und wenn es dann nicht klappt, fängt man halt nochmal von vorne an.“

Learning by doing
Mit den beiden Projekten „Angebote für Jugendliche“ und „Räumliche Umgestaltung für Lernende“ startete unter Anleitung der erfahrenen Design-Thinking-Trainerin Julia Bergmann Ende 2018 der Veränderungsprozess. Wie wertvoll die neue Methode für die bevorstehenden Prozesse sein sollte, zeigte sich schon nach wenigen Monaten. „Einfach nur zuhören und Fragen stellen – wenn wir diesem grundlegenden Prinzip des Design Thinking nicht von Anfang an gefolgt wären, hätten wir schon direkt beim Start die ersten groben Fehler gemacht“, erinnert sich Silke Niermann. Was war passiert? „Wir wollten Rückzugsorte für die Lernenden schaffen und planten dafür abgeschlossene Kabinen als Raum-in Raum-Lösungen, Die Gespräche mit den Lernenden zeigten uns aber, dass unsere Zielgruppe zwar Ruhezonen wünschte, aber deswegen nicht von ihrer Umwelt abgeschottet werden wollte. Wir haben dementsprechend reagiert und unsere Planungen komplett umgeworfen. Heute schmücken offene Lernboxen und geräuschabsorbierende Sessel unseren digitalen Werkraum – und die hohe Nutzung zeigt, dass dies genau der richtige Weg war.“
Bereits im Frühjahr 2019 konnte die erste Phase des Veränderungsprozesses erfolgreich abgeschlossen werden. Es waren aber nicht nur die erzielten Resultate, die Silke Niermann begeisterten, sondern vor allem die Lernfähigkeit ihres Teams. „Design Thinking ist nicht nur ein Konzept, sondern beschreibt eine innere Haltung. Diese Einstellung haben sich unsere Mitarbeitenden im Laufe der Zeit zu eigen gemacht und leben sie heute noch.“ Zu dieser Haltung gehört auch die Entwicklung einer Fehlerkultur, die konstruktiv mit Fehlentwicklungen umgeht. Silke Niermann: „Beispielsweise haben wir in einem Fall einen Ablaufprozess schon nach fünf Tagen wieder aufgelöst, weil offensichtlich war, dass es nicht klappt. Hier gab es aber keine Vorwürfe oder Schuldzuweisungen. Diese Haltung prägt uns bis heute. Soll heißen: Wir probieren etwas aus und schauen, was dabei rauskommt. Wenn es klappt, ist es gut, wenn nicht, machen wir es anders.“

Corona verzögert die Prozesse
Nach dem erfolgreichen Start begann Ende 2019 mit der Umgestaltung der Kinderbibliothek das nächste Projekt. Erneut wurden zahlreiche Interviews geführt, Informationen gesammelt, Ideen ausgearbeitet und viel ausprobiert. Schon Mitte 2020 stand das Konzept der neuen Kinderbibliothek, die heute als das „Schaufenster“ der Idee einer neuen Stadtbibliothek fungiert. „Zum Glück haben wir die Planungsphase gerade noch abschließen können, bevor die Coronakrise ausbrach, die uns dann in unserem Projekt weit nach hinten geworfen hat“, erinnert sich Silke Niermann. „Für unser Projekt Öffnungszeiten, für das wir schon eine Förderung des Landes bewilligt bekommen hatten, konnten wir die Interviews nur noch digital führen. Außerdem hatten wir selbst mit der Krise zu kämpfen und mussten uns auf die absolut notwendigen Dinge konzentrieren.“ So konnten beispielsweise die ursprünglich für Anfang 2021 geplanten Testsonntage erst Ende des Jahres durchgeführt werden. Inzwischen ist aber auch dieses Projekt erfolgreich abgeschlossen, wenn auch mit einer erheblichen Verzögerung.

Mit Design Thinking das Potenzial im eigenen Haus entdecken
Dennoch ist Silke Niermann mit den Ergebnissen der vergangenen vier Jahre mehr als zufrieden: „Zum einen haben wir unsere Bibliothek zukunftsfähig gemacht – und dies in einer Art und Weise, dass sich auch unsere Besucher hier wohlfühlen. Zum anderen haben wir für uns als Team eine Menge Entdeckungen machen können: Wir haben viel Kreativität an Bord, können gut als Team und auch teamübergreifend arbeiten, sind experimentierfreudig und haben ein neues Miteinander gelernt, in dem auch Fehler zugelassen werden. Daher steht für uns fest, dass wir das Instrument des Design Thinking in Zukunft weiter für uns nutzen werden, zumal wir inzwischen ja auch eigene Expertise in diesem Themenfeld aufgebaut haben.“
Eine Strategie, mit der die Stadtbibliothek Gütersloh nicht allein dastehen. Immer mehr Akteure entdecken das Veränderungspotenzial im eigenen Haus und versuchen es, für kreative Prozesse zu nutzen. Doch nicht für jedes Unternehmen ist das Design-Thinking-Modell geeignet, weiß Dr. Knut Menzel. „Die Methode ist aufgrund ihres Prozesscharakters kein Instrument, mit dem Ergebnisse über Nacht erzielt werden können, und auch für Unternehmen, die noch nach dem Command & Control-Ansatz führen, ist das Tool erst dann eine Option, wenn eine neue Offenheit für fortschrittliche Führungsprinzipien erarbeitet wurde. Schließlich setzt erfolgreiches Design Thinking hierarchiefreies und interdisziplinäres Arbeiten voraus. Wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, ist der Prozess schon zum Scheitern verurteilt.“

Woher kommt Design Thinking eigentlich?
Schon in den 1960er-Jahren taucht der Begriff Design Thinking in der Design-Forschungsliteratur auf, noch allerdings als reine Beschreibung der Denkweise von Designern. Erst im neuen Jahrtausend erhält das Konzept seine inhaltliche Ausprägung, wie wir sie heute kennen, als Best-Practice-Ansatz mit konkreten Empfehlungen für Prozesse, Methoden und einer inneren Haltung bei der Konzeptarbeit. Seit 2005 wird die School of Design Thinking („dschool“) an der Universität Stanford gelehrt, nur zwei Jahre später erfolgt dann der Start des Studiengangs Design Thinking am Hasso-Plattner-Institut der Universität Potsdam. Heute ist das Konzept bei erfolgreichen Unternehmen wie Apple, Netflix, Amazon, IBM und Google, aber auch bei immer mehr mittelständischen Unternehmen fester Bestandteil der Denk- und Arbeitsweise.

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