Ein besonderes Stadtjubiläum, neue Perspektiven auf lokale Geschichte und die Lust am
Erzählen – all das brachte 15 Menschen dazu, sich auf einen umfassenden Lehrgang an der
Volkshochschule Gütersloh (vhs) einzulassen. Gemeinsam mit der Gütersloh Marketing
wurde von September 2024 bis Februar 2025 eine neue Generation von Stadtführenden
ausgebildet. Dr. Mariella Gronenthal, stellvertretende Leiterin der Volkshochschule Gütersloh,
hat das Konzept entwickelt – und spricht im Interview über Haltungen, Hürden und Highlights.
Fotos: Detlef Güthenke
Frau Dr. Gronenthal, wie kam es zu der Entscheidung, einen neuen Lehrgang zu entwickeln?
Der Impuls kam von Clara Abelmann, Leiterin des City- und Tourismusmanagements bei der Gütersloh Marketing. Sie wusste, dass wir 2008 und 2016 bereits Stadtführende ausgebildet hatten, und fragte nach, ob wir uns das wieder vorstellen könnten – vor allem im Hinblick auf das bevorstehende Stadtjubiläum. Einige der erfahrenen Stadtführerinnen und Stadtführer werden altersbedingt ausscheiden, gleichzeitig war da der Wunsch nach neuen Themen und neuen Formaten. Und wann, wenn nicht zum 200. Stadtgeburtstag?

„Gütersloh ist eine außerordentlich liebenswerte
Stadt – gerade, weil es hier so viel(e) Geschichte(n) gibt.“
Dr. Mariella Gronenthal, Leiterin der Volkshochschule Gütersloh
Was war Ihnen bei der Konzeption der Ausbildung besonders wichtig?
Mir ging es darum, nicht einfach Wissen, sondern Kompetenzen zu vermitteln. Als Pädagogin einer jüngeren Generation war mir klar: Lernen funktioniert dann am besten, wenn Menschen selbst ins Handeln kommen dürfen. Also haben wir den Kurs sehr praxisnah aufgebaut, mit viel Eigenverantwortung und einem starken Fokus auf Haltung, Zielgruppenorientierung und Vielfalt.
Die Teilnehmenden besuchten zunächst vier Stadtführungen von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen. Dabei ging es nicht nur um Inhalte, sondern auch um Stil und Methodik. Besonders schön war, dass die „alten Hasen“ von sich aus zusätzliche Führungen angeboten haben – einfach, weil sie Lust hatten, ihr Wissen zu teilen. So war über die Dauer des gesamten Lehrgangs am Schluss die Teilnahme an neun statt ursprünglich nur vier Rundgängen möglich.
Die Gruppe war sehr gemischt, oder?
Absolut. Neun Frauen, sechs Männer – zwischen Anfang 30 und Mitte 60. Wir hatten wirklich aus jeder Lebensdekade jemanden dabei. Die beruflichen Hintergründe waren auch ganz unterschiedlich: aus dem Bildungsbereich, der Verwaltung, dem Kultursektor und aus der Wirtschaft. Diese Vielfalt spiegelte sich in den Themen wider und hat den Austausch enorm bereichert.
Nach dem Einstieg begann dann die eigentliche inhaltliche und methodische Arbeit: Lokalgeschichte, Recherchetechniken, rechtliche Grundlagen, Erste Hilfe, Rhetorik. Wir haben mit dem Stadtmuseum und dem Stadtarchiv zusammengearbeitet, um den Teilnehmenden den Zugang zu Quellen und Materialien zu erleichtern.
Bereits zu Beginn des Kurses wurde an jede Person ein historischer Ort vergeben, zu dem dann individuell recherchiert wurde. Das sorgte für eine gute Arbeitsteilung. Ein Teilnehmender erstellte sogar laminierte Bildersammlungen für die Gruppe, um die Erkenntnisse anschaulich zu machen. Über die lebendige Chatgruppe wurden Quellen geteilt, Veranstaltungstipps gepostet und Rückfragen diskutiert.
Ein Schwerpunkt lag auf Zielgruppenorientierung. Was heißt das in der Praxis?
Einer der wichtigsten Termine im Kurs war der Konzept-Tag. Da ging es um die großen Fragen: Wie wird aus einer Idee eine Führung? Was macht meine Perspektive besonders? Und: Für wen mache ich das eigentlich? In Kleingruppen wurden Zielgruppen analysiert – von Betriebsausflüglern über Kita-Gruppen bis zu internationalen Gästen. Natürlich wurden die Führungen nicht nur auf dem Papier geplant. Vieles wurde draußen ausprobiert: Welche Wegstrecke ist sinnvoll? Wo kann ich stehen? Wie laut ist der Markt zur Mittagszeit? Was mache ich mit einer Baustelle mitten auf meiner Route? Es ging ums Planen, aber auch ums Improvisieren.
Die Auseinandersetzung mit Inklusion und Diversität gehörten ebenfalls zu den Inhalten des Lehrgangs. Wie wurde das umgesetzt?
Für uns war klar: Eine moderne Ausbildung muss diese Themen mitdenken. Rassismuskritische Bildungsarbeit und Barrierefreiheit waren daher feste Bestandteile des Kurses. Wir haben gezielt darüber gesprochen, wie Stadtführungen zugänglicher gestaltet werden können – zum Beispiel für Menschen mit Seh- oder Hörbeeinträchtigungen oder aus dem Autismus-Spektrum. Auch der Behindertenbeirat hat uns wichtige Impulse gegeben: etwa die Planung kurzer Wege, ausreichender Pausen und die Bedeutung klarer Hinweise zu Barrieren. Es ging uns darum, Berührungsängste abzubauen und das Mitdenken zu fördern. Denn wenn man weiß, wer welche Einschränkung mitbringt, kann man Rücksicht nehmen. Aber man muss auch den Mut haben, offen zu kommunizieren, was geht und was eben auch (noch) nicht.
Ergänzt wurde das Curriculum durch Rhetorikschulungen, Präsentationsübungen und Austauschformate mit den erfahrenen Stadtführenden. Auch der Umgang mit Störungen, Zwischenrufen oder Besserwisserei wurde thematisiert – praxisnah, mit viel Humor und offenem Erfahrungsaustausch.

Wie verlief der Abschluss des Kurses?
Im Februar dieses Jahres war es so weit: Aufgeteilt auf zwei Termine präsentierten die Teilnehmenden im Rahmen ihrer Prüfungen jeweils einen rund 20-minütigen Ausschnitt aus ihrer Stadtführung und erläuterten anschließend ihr Konzept. Wir hatten Themen von der Mädchenbildung bis zur Unternehmensgeschichte, von englischsprachigen Führungen bis zu Angeboten für ukrainische Zugewanderte. Ein Bericht des WDR begleitete das Geschehen und wurde in der Lokalzeit OWL ausgestrahlt. Alle 15 Teilnehmenden erhielten abschließend ihr Zertifikat. Es wurde ihnen in einem feierlichen kleinen Festakt in der Aula der VHS übergeben. Unter den Gästen waren unter anderem die Dozentinnen und Dozenten und das bestehende Stadtführer-Team.
Was erwartet die Öffentlichkeit im Jubiläumsjahr?
Frische Perspektiven, lebendige Geschichten und ein respektvoller Blick auf die Vielfalt unserer Stadt. Alle Führungen zeigen: Erinnerungskultur ist nichts Verstaubtes – sie lebt davon, dass Menschen mit Engagement und Empathie erzählen.
Und was nehmen Sie persönlich aus diesem Lehrgang mit?
Vor allem Begeisterung. Ich habe selten eine so engagierte, kreative, reflektierte Gruppe erlebt. Was da entstanden ist – an Ideen, an Kooperation, an echtem Stadtbewusstsein – das geht über eine Ausbildung hinaus. Es war ein echtes Gemeinschaftsprojekt.