Fotos: Thorsten Wagner-Conert
1913 im Deutschen Reich: Die damals größte Stauanlage, die Möhneseetalsperre, wird nach fünfjähriger Bauzeit eingeweiht. In Leipzig wurde zum hundertjährigen Jubiläum der Schlacht das Völkerschlachtdenkmal eingeweiht. Richard Wagner wäre 100 Jahre alt geworden; ihm zu Ehren entstand die erste Filmbiografie überhaupt. Der Bäcker Karl Albrecht senior wurde Brothändler und legte so den Grundstein für das Handelsimperium Aldi. Und in München gründete ein Karl Rapp die Rapp Motorenwerke GmbH, den Vorgänger von BMW. Derweil in Gütersloh: Carl Miele sen. und Reinhard Zinkann waren schon mittendrin in ihrer automobilen Ära, die allerdings auch nur von 1912 bis 1914 währte.
Technik-Pioniere
80.000 Mark hatten die Herren an die Seite gelegt, um sich neben der Fertigung von Milchzentrifugen, Butterfässern und Waschmaschinen ein weiteres Standbein zu erschließen. Im Juli 1911 teilten sie kurz und knapp mit, die Fabrik vergrößern zu wollen, um sich auch dem Automobilbau zu widmen. Im ersten Jahr nahm sich das Geschäft so gut an, dass man die Produktionsfläche verdoppeln musste. Doch schon bald erkannten die Technik-Pioniere kaufmännisch vorausschauend, dass der langfristige Kapitalbedarf für die Automobilproduktion ihre Möglichkeiten übersteigen würde. Und so endete das kleine technische Abenteuer nach dem Bau von insgesamt 125 Miele-Tourenwagen am 26. Februar 1914.
Zuvor hatten Carl Miele und Reinhard Zinkann im wahren Wortsinn richtig Gas gegeben: Beim Dampfkessel-Überwachungs-Verein Paderborn beantragte die Firma Miele eine Typenbescheinigung, die dem Unternehmen am 23. März 1912 vom Regierungspräsidenten von Minden ausgestellt wird.
Mutig stiegen die Gründer gleich mit einer Modellpalette ein: Drei verschiedene Fahrzeugtypen wurden entwickelt und produziert. K1, K2 und K3 nannte man die und bot sie in unterschiedlichen Ausführungen als Zwei.- und Viersitzer, als Phaeton und Doppel-Phaeton, als Landaulet, als Limousine und Kasten-Lieferwagen an.
Auf Spektakuläres verzichtet
Für die Pionierarbeit im Automobilgeschäft hatten sie bei Miele einen begnadeten Tüftler als Experten: Oskar Klemm verlieh dem K1 20 PS, dem K2 und dem K3 28 PS, letzterem aber einen längeren Radstand. Auf Spektakuläres verzichtete der Konstrukteur, nicht aber auf Zuverlässiges: Drei Bremsen gab er den Miele-Autos mit – eine als Fußbremse ausgelegte Getriebebremse und zwei, die auf die Hinterräder wirkten. Von reichlich groß bemessenen Lamellenkühlern wurde in der Werbung geschwärmt, die bei heißesten Sommertagen und Bergfahrten ausreichen sollten. Im Vergleich zu anderen Autos der Zeit hatten die Mieles anstelle von Holz- Stahlspeichenräder.
Die Herren Miele und Zinkann selbst sollen sich damals für die Vermarktung engagiert haben. In und um Gütersloh herum machten sie Werbefahrten, in Zeitungsanzeigen lobten sie „höchstvollendete Konstruktion, Präzisions-Arbeit, vornehme Form und geschmackvolle Ausstattung.“
Zwischen 5.100 und 7.900 Mark kosteten die 60 bis 80 Stundenkilometern schnellen Fahrzeuge, die auch auf Rallyes Eindruck machten.
80 Autos waren am Start
Dazu gehörte das damals wohl prestigeträchtigste deutsche Autorennen: 1912 meldeten die Produzenten eines ihrer ersten gefertigten Autos zur Teilnahme an der vom Kaiser-Bruder organisierten Prinz-Heinrich-Fahrt an. 1.400 Kilometer von Minden bis nach Frankfurt am Main galt es zu überwinden, 80 Autos waren am Start. Den Platz am Steuer übernahm Chefkonstrukteur Oskar Klemm. Der K1 wurde Zweiter – aber nur wegen einer Reifenpanne. Ansonsten funktionierte alles zuverlässig und damit so gar nicht selbstverständlich für die Zeit. Aus dem Erfurter Magazin „Stahlrad und Automobil“ stammt das Zitat: „Wo der Miele-Wagen gezeigt wird, löst er Bewunderung aus und ergötzt Herz und Auge jedes Kenners. Es darf behauptet werden, daß keine Automobilfabrik in der gleichen Zeit die Erfolge erzielt hat, die Miele-Automobile seit der Zeit ihrer Einführung aufzuweisen haben.“
Die Mieles verkauften sich nicht nur in Westfalen und Deutschland, sondern auch nach Brasilien, Frankreich, Österreich-Ungarn, Russland und sogar nach Uruguay.
Nicht selten passiert es, dass heutige Besucher des Miele-Museums im Gütersloher Werk aus dem Staunen nicht herauskommen. In den Köpfen der Gäste ist oft der Eindruck, den die Marke Miele heute macht – als Hersteller sogenannter weißer Ware mit höchstem Technologie- und Qualitätsanspruch. Das Museum erweitert diesen Eindruck um unterschiedlichste Produkte, die in ihrer jeweiligen Zeit einen Markt hatten: Neben Melktechnik, Küchenschränken und vielen anderen Überraschungen finden sich auch Fahrräder (von denen in unserer Gegend noch reichlich herumfahren), Motorfahrräder, Mopeds und Motorräder der Marke Miele – und somit viele Zeitzeugen von Mobilität made in Gütersloh.
Geschichte einzigartig wie das Auto selbst
Am Ende der Ausstellung dann steht in kräftigem Rot, präsentiert wie ein Kronjuwel, das Miele-Auto da, das in den 1990er-Jahren den Weg nach Gütersloh zurückfand. Eingefasst von roten Samt-Pfosten-Seilen, hat es eine besondere Wirkung auf seine Betrachter. Die Farbkombination von rot, schwarz und Messing fasziniert. Die Geschichte, die zur Rückkehr an seinen Herstellungsort führte, ist einzigartig wie das Auto selbst:
Vielleicht war es ein Marketinggag, vielleicht aber auch eine echte Herzensangelegenheit der seinerzeitigen Unternehmenschefs Rudof Miele und Dr. Peter Zinkann, als die Firma 1991 mit einer auffälligen Suchaktion an die Öffentlichkeit ging: „Gesucht: Das Miele-Auto!“ stand da auf einer Art Flugblatt. Etwas augenzwinkernd wurde die Ausführung des Autos mit „Westfälische Präzisionsarbeit“ beschrieben – und als besonderes Kennzeichen wurde angegeben: „Robust und langlebig wie alles von Miele“. Für sachdienliche Hinweise lobte Miele immerhin insgesamt 5.000 DM aus.
1995 kam dann der entscheidende Tipp – aus Norwegen. Miele kaufte das Auto zu einem nicht genannten Preis zurück. Der Miele-Oldie mit der Fertigungsnummer 311 hat eine lückenlose Historie: Am 12. April 1913 wurde das Auto an Anton Benz (ausgerechnet!) aus Offenbach verkauft, der es 1921 an den Taxiunternehmer Gunnar Hansen veräußerte. Das Auto bekam eine norwegische Zulassung mit der Nummer A-5141. Schon ein Jahr später übernahm das Fahrzeug ein Carl Mathisen, der es 1925 an die Chauffeursschule Brandt in Oslo weitergab. Ab 1927 wurde das Auto von Chauffeur Nestor Christiansen gefahren. Der letzte norwegische Besitzer übernahm das Auto von einem Verwandten im Jahr 1960, um es 1965 restaurieren zu lassen.
Am 8. Januar 1996 kam das Miele-Auto auf einem LKW „back to the roots“. Seitdem steht es im Miele-Museum und löst immer wieder diese zwei Fragen aus: „Miele hat auch Autos gebaut?“ Und: „Wo die anderen Autos wohl sind?“
Rudolf Miele, Dr. Peter Zinkann, viele Mitarbeitende und Schaulustige hatten das lange verschollene Stück zuvor in Empfang genommen. Vom Zustand des Autos waren sie nicht überrascht: Miele-Qualität eben.