Fotos: Detlef Güthenke

Mit einem Faltboot sind schon Ozeane überquert worden. Oder die Ems von Gütersloh bis zur Mündung. Geht schon, ist aber nicht Alltag bei der Gütersloher Faltbootgilde rund um das schmucke Bootshaus an der Emser Landstraße. Da sind die zurückgelegten Strecken meistens kürzer, aber durchaus reizvoll. Gepflegt wird hier seit fast 95 Jahren mobiler Breitensport, viel Jugendarbeit und eine lebhafte Vereinskultur. Im Kanu auf der Ems gleiten und ein bisschen Stille tanken – Balsam für Körper, Seele und Gehirn.

Einfach gucken und genießen
Zugegeben, es gibt herausfordernde Reviere als das grüne Idyll hinter einem kleinen Waldsaum, das im Frühjahr umgeben ist von einigen blütenreichen Fliederbüschen. In der Sonne glitzern aufgeregte Mückenschwärme, und an den Steinstufen zum Fluss lässt es sich auch ohne Boot aushalten. Einfach gucken und genießen. Mit dem Rad reisen einige Jungen an, bauen mit drei Handgriffen ein Igluzelt auf und holen sich dann eines der Boote aus dem Schuppen – Vereinsmitglieder, die diesen warmen Aprilnachmittag für eine nachmittägliche Paddelrunde nutzen. „Das Wasser ist aber noch ziemlich kalt,“ gibt einer zu Protokoll. Die Jungs wissen, was sie tun, haben Kurse absolviert und gehen souverän mit dem Sportgerät um.
„Jeden Dienstag ist Training für Schüler und Schülerinnen,“ bekräftigt Norbert Kleinegrauthoff. „Da sind hier manchmal mehr als30 Kinder. Donnerstag zwischen 17 und 19 Uhr trainieren die Erwachsenen. Der Übergang ist fließend, denn viele bleiben bei diesem Sport, der Freude an Bewegung, Konzentration, Koordination und Mitdenken gleichermaßen erfordert. Der Lohn: totales Runterkommen von allem, was einem sonst so durch den Kopf schwirrt. Das kann im Erwachsenenleben ein Ausgleich sein, den man nicht missen möchte.
Norbert Kleinegrauthoff selbst ist ein Beispiel für die Anziehungskraft, die diese Sportart ausübt. Als Jugendlicher ist er in den Siebzigern zum Verein gekommen. „So seit Anfang der Achtziger“ ist er im Vorstand der Faltbootgilde, seit neun Jahren deren Vorsitzender, sein Vorgänger Rolf Theiß hatte mehr als 25 Jahre diese Position inne. Kontinuität ist ebenso ein Merkmal dieses Vereins wie seine geradezu familäre Atmosphäre. Hier ist dder Slogan „Wir sind eine große Familie“ tatsächlich kein Wortgeklingel, um neue Mitglieder zu werben. Der Zusammenhalt ergibt sich möglicherweise aus der Besonderheit dieser Sportart, deren Ausübung sich nicht allein auf die Ems-Umgebung beschränkt.

„Eine Woche komplette Auszeit“
Die Faltbootgilde Gütersloh bietet ein stattliches ganzjähriges Fahrtenprogramm mit Tagestouren zu regionalen Zielen wie Weser oder Lippe. Aber auch Sieben-Tage-Sommerfahrten mit Wildwasser-Lehrgang in Österreich oder eine Herbstfahrt in die Lüneburger Heide gehören zum Angebot.  Was heute geradezu exotisch klingt:  Kinder, Jugendliche und Erwachsene gehen gemeinsam auf Tour, bei der Sommerfahrt wird konsequent gezeltet. Die Logistik – vom Boote-Transport bis hin zur täglichen Versorgung mit Essen – ist Gemeinschaftsarbeit. „Eine Woche kompletteAuszeit“, nennt Norbert Kleinegrauthoff den Effekt.
Wie sehr die Faltbootgilde auf Gemeinschaft setzen kann und in der Stadtgesellschaft verankert ist, war in einer Zeit zu spüren, als eine Basis des Vereinslebens im wahrsten Sinn des Wortes über Nacht vernichtet wurde. Durch Brandstiftung ging Anfang 2013 das Bootshaus aus den Dreißiger Jahren in Flammen auf, mit ihm das komplette Equipment mit allen Booten. Spendenbereitschaft und Unterstützung waren in der Folgezeit überwältigend, es wurden Benefizkonzerte veranstaltet, das Wapelbad bot ein Ausweichquartier fürs Training an, ein Neubau mit viel Eigenleistung konnte in den nächsten zwei Jahren realisiert werden. Die Erinnerung ist nicht nur beim Vorsitzenden noch sehr präsent – Grund genug, das Zehnjährige des Neubaus mit einem Familienfest auf dem Bootshausgelände zu feiern.
Familien- und Sommerfeste, wie sie lange Zeit zusammen mit dem Verkehrsverein im Rahmen des Gütersloher Sommers gefeiert wurden, sind immer wieder eine gute Gelegenheit Jung und Alt den Kanusport nahezubringen und neue Mitglieder zu rekrutieren. Der Mitgliederbestand ist solide. Knapp unter 300 zählt der Vorstand. Davon sind etwa 100, so schätzt Norbert Kleinegrauthoff, regelmäßig aktiv. Auch die Traningsleitung kann noch garantiert werden, wenngleich auch die Faltbootgilde das Problem vieler heimischer Vereine kennt:  Nach der Schule kommt mit Studium oder Ausbildung für viele Nachwuchskräfte ein Ortswechsel, und so ist bestenfalls noch das Wochenende für den Sport oder den Verein frei.

Bescheid wissen über Naturschutz
Zum Portfolio gehören nicht nur die sportlichen Übungseinheiten. Wer sich für diese Sportart in engster Symbiose mit der Natur entscheidet, der sollte Bescheid wissen über Naturschutz, sollte die Gefahren kennen und einschätzen können, die auf und am Wasser warten. Auch auf diese Lehreinheiten legt der Vorstand großen Wert, ebenso wie auf die Instandhaltung des Bootshauses und seiner Umgebung. So steht auch der Einsatz für eine saubere Umwelt im Jahreskalender: Bei den so genannten „Müllfahrten“ wird so manch übler Zivilisationsrückstand aus Wasser und Uferböschung gefischt. Und eine weitere Aufgabe hat eine Arbeitskreis im Verein mit großer Sorgfalt ins Blickfeld genommen:  die Erarbeitung eines „Schutzkonzepts zur Vermeidung interpersoneller und sexualisierter Gewalt“. Damit komme die Faltbootgilde ihrer Verantwortung und gesetzlichen Verpflichtung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen nach, sei aber auch Vorreiter in der Sportvereinslandschaft, heißt es im Bericht zur aktuellen Jahreshauptversammlung.
Vier Kanusportvereine gibt es im Kreis Gütersloh. Neben der Faltbootgilde Gütersloh sind dies die Wasser-Wander-Freunde Verl, die Kanusportabteilung von TuS Viktoria Rietberg und der Kanuclub Wiedenbrück-Rheda. Sie alle repräsentieren die Vielfalt dieses Sports. So bieten die Wiedenbrücker Kanu-Freestyle an und nehmen an Wettkämpfen teil, die Rietberger haben Kanupolo im Angebot. In der Fachschaft Kanu sind alle vier Vereine beim Kreissportbund vernetzt, gemeinsame Fahrten auf der Ems stehen mindestens einmal im Jahr auf dem Programm.
„Die Ems bietet ideale Bedingungen für den Einstieg in denKanusport, besonders für Kinder und Jugendliche“, sagt Norbert Kleinegrauthoff und warnt gleichzeitig davor, die eigenen Fähigkeiten ohne Anleitung zu testen. Auch dieser Fluss, der hier noch jung ist und still voranzufließen scheint, hat seine Launen und Strömungen, je nach Wetterlage und Wasserstand. Pegelstände werden regelmäßig vom Verein abgerufen und lassen erkennen, dass „Klimawandel“ irgendwo weit weg stattfindet. „Die letzten beiden Jahre waren, gemessen an der Wassertiefe, ganz gut, aber die Trockenheit wie im März dieses Jahres ist seit einigen Jahren grundsätzlich spürbar,“ erklärt Norbert Kleinegrauthoff. Die regelmäßigen Pegelmessungen hätten ergeben, dass zwischen 2015 und 2022 eher niedriger Wasserstand zu verzeichnen war. Und wenn die Pegelstände zu niedrig sind, wird auch nicht gefahren.

Konsequent auf Breitensport gesetzt
Als der Verein 1931 unter dem Namen „Faltboot-Freunde Grün Weiß“ mit den Gütersloher Stadtfarben gegründet wurde, folgten seine Mitglieder einem Trend der Zeit. Sportliche Bewegung im Wasser hatte auch in Gütersloh seine festen Orte. Die Wapel war nicht weit entfernt vom heutigen Gilde-Standort zum Schwimmbad erweitert worden. 1927 war zudem das moderne Parkbad eröffnet worden. Und im Deutschland der damaligen Zeit boomten seit den Zwanzigern die Wanderfahrten mit den Faltbooten, die ihren Namen der praktischen Handhabung verdanken: als faltbares, verstaubares Sportgerät, das seither immer weiterentwickelt worden ist. In den 1970er- und 1980er-Jahren, so erzählt die Vereinschronik, wurde auch Wettkampfsport in Gestalt von Wildwasser und Kanuslalom betrieben. Heute setzt die Faltbootgilde konsequent auf Breitensport. Das schließt nicht aus, die gut 350 Kilometer Ems bis zur Mündung zu erkunden. Norbert Kleinegrauthoff erinnert sich an zwei Mitglieder, die diesen Weg immerhin bis Papenburg gemacht haben. Dort war dann Schluss, weil gerade wieder ein Kreuzfahrtschiff von der Meyer Werft vom Stapel gelassen wurde.
Mit den großen Pötten braucht man es tatsächlich nicht aufnehmen, um die Faszination des Kanusports zu beschreiben. Norbert Kleinegrauthoff muss nicht lange überlegen: „Individualität, Naturnähe, die Vielfalt in Form der verschiedenen Bootsarten und Gelände  – vom Kanu bis zum Seekajak etwa auf den ostfriesischen Inseln, die Möglichkeiten von sportlich bis gemächlich.“ Und natürlich der Zusammenhalt in einem Verein, in dem Mobilität sich nicht nur über die Fortbewegungsart definiert.