Text und Fotos: Thorsten Wagner-Conert

Sein umfassendes Lebenswerk genießt hohe Achtung. Seine Lebenslust hat viele in der Provinz irritiert. Seine Fans würden ihm gern mit einem Museum huldigen. Aber hat Rheda-Wiedenbrück überhaupt den Mut zu Design-Star Luigi Colani? Und das Geld? Und die Größe? Luigi Colani wuchs in den zehn Jahren von 1963 bis 1972 in Rheda-Wiedenbrück über sich hinaus. Dabei hatte alles sehr alltäglich angefangen – mit einem kaputten Auto.

Auf dem Weg von Berlin ins Ruhrgebiet wollte er partout nicht mehr, der alte Käfer des jungen Designers. Luigi Colani – seinerzeit knapp bei Kasse – verzichtete auf fremde Hilfe und schob das defekte Auto bis zur Tankstelle am heutigen Motel in Wiedenbrück. Die Reparatur sollte ein paar Tage brauchen, so dass sich der Reisende auf einem Bauernhof in der Siechenstraße einnistete – und dort blieb. Die Töchter des Hofes lieferten einen amourösen Grund – und die Drähte der Familie in die hiesige Möbelindustrie einen weiteren – einen wirtschaftlichen.


„Immer in Begleitung netter Mädels“

Hans Schalück brennt, wenn er von Luigi Colani erzählt. Ein bisschen seelenverwandt wirkt der über 80-jährige Wiedenbrücker, der gerne ein wenig bunter Vogel ist, der mit schrägen Ideen seine Mitbürger gegen den Strich bürstet – und der ein Colani-Museum für Rheda-Wiedenbrück als sein Lebensziel ausgibt. Und dann erinnert er sich an damals: 1963 machte der junge Hans abends die Theke im Ratskeller. Und immer so auf halb sechs, da kam Luigi Colani rein, „immer in Begleitung netter Mädels“, ein angenehmer, vielleicht auch mal etwas lauter Plauderer. Ein Lebemann sei er gewesen, einer, der das weibliche Geschlecht und Schampus brauchte, um durch den Tag zu kommen. Colani soll aber auch einer gewesen sein, der die anderen mitzog, sie mittrinken ließ und die meisten Gäste anschließend freihielt. Morgens um vier sei Colani meistens aufgestanden, habe hart gearbeitet und sich später am Tag um eben diesen Schampus gekümmert, den er sich auch noch spät in die Nacht liefern ließ.

Designchef eines sehr angesehenen, anspruchsvollen Möbelunternehmens hätte er werden können – doch da hatte Colani die Rechnung ohne die Prüderie der Zeit und ohne die Verkniffenheit der Ostwestfalen gemacht. Dem Unternehmenschef nämlich schenkte er zu dessen 65. Geburtstag einen selbstgemalten Frauenakt. Heute wäre der vermutlich ein Vermögen wert, damals verstieß er gegen die Moralvorstellungen des Beschenkten. Der Akt verschwand schnell, und Luigi Colani wurde eben nicht der Chef über die Form im Unternehmen.

Colani-Ikone

Gerade einmal Twen war Hans Schalück, als er sich von Colani und seinem Auftreten in Wiedenbrück (und seinem Schaffen in Rheda) beeindrucken ließ. Die Orbis-Sitzgruppe hatte sich der junge Bauernsohn Hans schon bald zugelegt, war beeindruckt von den edlen Möbeln von interlübke und COR. Viele Sammlerstücke beherbergt Hans Schalück noch heute aus der Colani-Ära, darunter viele Produkte, die hier entwickelt worden waren: Gläser, Fernseher, Bestecke, Flaschen, Modell-LKW und anderes mehr. Er ist auch begeistert vom mitwachsenden Kinderschreibtisch von Flötotto, den Colani schuf. Seine Colani-Ikone schlechthin hat allerdings vier Räder und eine Kunststoff-Karosserie: Der Colani GT. Der Roadster wurde auf der Bodengruppe des VW Käfer montiert, wog aber rund 170 Kilogramm weniger als das Wolfsburger Modell. Volkswagen mochte das Vorgehen nicht, verhinderte den Verkauf von VW-Bodengruppen an Hersteller von Sonderkarosserien. Die Folge: Man kaufte gebrauchte Käfer zusammen, montierte die neuen Karosserien drauf – und verkaufte die überschüssigen Original-Karosserien zum Beispiel an Autoversicherer. Der weiße Colani GT von Hans Schalück ist eines von insgesamt 360 so produzierten Autos.

Aus dem Runden

Hans Schalück ist nicht das Modell ruhiger, pflegeleichter Opa. Er ist mehr der, der anregt, aufmischt, aneckt – und der anderen für „seinen“ Designer mächtig auf den Keks geht. Keinen anderen gäbe es, der so konsequent auf rechte Winkel verzichtet habe, der sein Design nicht für Eliten gemacht, sondern breit gestreut habe. „Wer heute glaubt, er sei besser und größer als Colani, der soll das erstmal zeigen. Das gibt es nicht“, sagt Hans Schalück so, dass es kaum Widerspruch duldet. Und er verweist aufs Erbe: „Was Colani als Utopie gezeichnet hat, das wurde von anderen dann verbessert und übernommen – und das muss Design dann auch machen“, ist er überzeugt. Und dann schwärmt er von der Kugel-Küche, seinem Lieblings-Colani-Entwurf. Diese Küche sei nie irgendwo eingebaut worden, aber sie habe beeindruckend viel Innovation gebracht, weil Colani auf kleinstem Raum eine wunderbare Küche entwickelt hatte. In heutigen Wohnmobilen könne man sehen, wo die Ideen gelandet seien – Colani-Design, das andere später übernommen hätten. Lutz „Luigi“ Colani kam – wie wir alle – aus dem Runden. Und er sorgte ganz zuletzt dafür, nicht ins Eckige zu müssen. Seinen Sarg, in dem er im Oktober 2019 in einem sogenannten „Ewigkeitsgrab“ im Ehrenhof des Karlsruher Friedhofes beigesetzt wurde, hatte der Designer selbst entworfen. Mit runden Ecken – natürlich.

Nun ist die Zeit danach: In Karlsruhe müht man sich ab, ein geeignetes Andenken zu schaffen – bislang erfolglos. In Rheda-Wiedenbrück muss ganz viel Überzeugungsarbeit geleistet und Geld gesammelt werden, soll es mit dem Lebensziel von Hans Schalück etwas werden. Und die Gesellschaft wird sich – gut 50 Jahre nach Ende der hiesigen Colani-Ära – vielleicht versöhnen müssen mit dem machohaften, aufwändigen Lebensstil des Designers.

„Wir können wirklich an alle Dinge kommen, die Colani gemacht hat und die die Erben in Besitz haben. Auch die Familie sieht ein, dass Luigi Colani seine wirklich wichtigste Zeit hier in Rheda-Wiedenbrück verlebt hat“, betont Hans Schalück. Und er verweist auf Kassel: Die Stadt habe viermal so viele Einwohner wie Rheda-Wiedenbrück und bekommt das Weltereignis mit Namen „dokumenta“ hin. Colani könnte auch ein Weltereignis sein, stapelt Hans Schalück ebenso wenig tief wie sein großer Design-Meister. Jedenfalls: Es brauchte immer schon etwas Mut, um zu Luigi Colani zu stehen. Aber: Mut tut bekanntermaßen gut.

YLEM – das Buch

Es gehört wohl zu den ungewöhnlichsten Büchern, die jemals bei Bertelsmann in Gütersloh erschienen sind. Ungewöhnlich schon deshalb, weil es den klassischen Anforderungen eines Buches nicht folgt. 117 lose Blätter umfasst das dreisprachige Werk, zusammengehalten in einem roten, mit ergonomischem Tragegriff versehenen Plastikkoffer, auf dem das silberfarbene „Y“ für Ylem prangt. Was es bedeutet? „Ylem, nicht im ordentlichen wissenschaftlichen Sprachschatz gebraucht, da Zentral-wort wagemutiger Spekulation über die Entstehung des Alls von größter geistiger Penetranz und Elastizität“, heißt es im Werk selbst zur Erläuterung. Auf den 117 Blättern versammeln sich Colanis Design-Überzeugungen zu den Themen Mensch, Wohnen, Gesellschaft, Kommunikation, Architektur, Transport und Verkehr.

Erschienen ist es im Bertelsmann Sachbuchverlag und der Edizione internazionale Colani 1971. Dass Sammler heute bereit sind, locker zwischen 500 und 1.000 Euro für ein antiquarisches Exemplar auszugeben, belegt die Fort-Existenz der Colani-Fangemeinde über den Tod des Designers hinaus.

Stationen eines Rastlosen
• Geboren am 2. August 1928 in Berlin-Friedenau als Sohn einer polnischen Mutter und eines Schweizer Vaters kurdischer Abstammung; eigentlicher Name: Lutz Colani
• Studium von Bildhauerei und Malerei an der Hochschule für Bildende Künste, Berlin, Aerodynamik-Studium an der Sorbonne in Paris
• Erstes Engagement bei Douglas in Kalifornien, dann Automobildesign für Fiat, VW, Lancia, BMW und Alfa Romeo
• Ab 1954 erste eigene Werkstätten in Paris, später in Berlin
• 1963 bis 1972 in Rheda-Wiedenbrück, hier Gründung seines ersten Designteams, Arbeiten u. a. für COR, Flötotto, Fritz Hansen, Burkhard Lübke, Poggenpohl, Sulo
• Umsiedlung auf Schloß Harkotten im Münsterland, Arbeiten u. a. für Vileroy & Boch, Thyssen, Rosenthal, Boeing, Sony
• 1982 Übersiedelung nach Asien mit großem Designteam, große Design-Erfolge u. a. für Canon
• 2002 Eröffnung des Colani-Designcenters mit Forschungszentrum in Karlsruhe
• 2007 Auszeichnung mit dem „Outstanding lifetime
contribution to design“ des FX Magazine in London
• Gestorben am 16. September 2019 in Karlsruhe

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