Fotos: Detlef Güthenke

Von einem Traditionsunternehmen soll die Rede sein – und von Instrumenten, die den Zuhörer komplett vereinnahmen, die sich ins Mark spielen und die die Seele erreichen. Dieser Text läuft Gefahr, anmaßend zu werden, würde der Autor heucheln, auch nur im Ansatz Ahnung von Orgelmusik zu haben. Hat er nicht, nicht im Geringsten. Er hat stattdessen das, was viele Menschen haben, die in den Genuss von Orgelklängen kommen:
Respekt.

Den verdienen Organistinnen und Organisten, die mit Händen und Füßen das raumgreifende und anspruchsvolle Instrument beherrschen. Und den verdienen Menschen, die solche Instrumente ersinnen, kreieren, gestalten und zu Unikaten werden lassen.

Ralf Müller ist ein solcher Mensch, ein Harmonium- und Orgelbaumeister. Der Orgelbaumeister in Rietberg: Hier führt er in fünfter Generation die Firma Orgelbau Speith. Das Unternehmen besteht seit 1848. Es entstand, weil Gründer Bernhard Speith als Zwölfjähriger fasziniert war von einem Orgelbauer aus Warendorf, der 1834 die Orgel für die Pfarrkirche In Rietberg baute. 14 Jahre später begann er seinen eigenen Orgelbau.

In der vierten Generation übernahm der Vater von Ralf Müller – Günther – 1978 den Orgelbau, weil sich in der Familie Speith kein Nachfolger fand. Vater Müller hatte zuvor den Speith-Betrieb als Angestellter geleitet.
Ralf Müller ist Jahrgang 1956 und somit in einem Alter, in dem andere sich der „dritten Lebenshälfte“ zuwenden, dem Dasein als Rentner oder Pensionär. Ihn aber trifft man an in einer Mischung aus Leichtigkeit, Abgeklärtheit und Zufriedenheit – gepaart mit der Haltung von „Mir kann keiner was“. Er hat die persönliche Freiheit in seiner Arbeit gefunden, sagt Ralf Müller über sich. Der herzliche Gastgeber öffnet Türen, lässt Einblicke zu und „erträgt“ die Ahnungslosigkeit seines Gastes.
Das alte Fachwerkhaus Im Sack 1 in Rietberg tanzt aus der Reihe: Es ist orange gestrichen – und hat nach dieser Farbgebung zunächst für Gesprächsstoff gesorgt. Als sich die Gemüter beruhigten, ließ sich erkennen: Hier ist ein Unikat zuhause, Individualität, Kunst… Auf der Deele reihen sich die Ahnen bildhaft aneinander. Ein paar Schritte weiter gibt es Zeichnungen, handgefertigte Orgelmodelle, gesammelte Instrumente. In einer Halle steht in voller Größe die Orgel, die vorher das Institut Vita in Rietberg bereicherte. Sie musste fort von da, weil die neuen Nutzer des Gebäudes anderes im Schilde führten und die Orgel im Weg war. Ralf Müller greift beherzt in die Tasten und beeindruckt mit den ersten Noten. „Ich bin ein passabler Musiker“ sagt er gelassen untertreibend. Natürlich helfe es, wenn man die Orgel spielen kann, die man baut. Gitarre und Schlagzeug hat er auch drauf, beim Klavier war
er ganz wesentlich Autodidakt. Er ist ein konzentrierter Macher – im Beruf und in der Freizeit. Aber Ralf Müller ist auch einer, der den Stecker ziehen kann, vermutlich sogar ziehen muss: Im Auto – zum Beispiel in seinem alten, liebevoll fit gemachten Renault R4, da hört er: nichts. Einer, der beruflich jeden Ton erkennen muss, macht sich unterwegs im Auto frei von akustischen Einflüssen aus dem Radio. Zum Ausgleich für berufliche Anstrengungen gehören auch seine Hunde, die ihm sehr wichtig sind. Das Wandern tut Ralf Müller gut – und das Musik machen mit den Freunden in der eigenen Band oben im Haus unterm Dach. Groß geworden ist er mit den Hollies und den Beach Boys. Die Musik aus der Jugend, die eigene Musik und das, was seine Orgeln wiederzugeben in der Lage sind – all das ist kein Widerspruch: „Orgelmusik spielt auch bei Jethro Tull eine Rolle, da hört man auch das Wilde noch“, sagt Ralf Müller die unterschiedlichen Stile und Instrumente verbindend. Hunde, Musik, Wandern – das ist der Ausgleich des Machers, der ersinnt, gestaltet, seinen Beruf liebt: „Ich weiß nicht, wie viel ich arbeite. Das blockiert nur.“, sagt er über sein berufliches Selbstverständnis.

Orgeln aus Rietberg werden gespielt in Brasilien, Dänemark, Italien, Japan, Kanada, Korea, Kroatien, Portugal, Rumänien zum Beispiel. Und immer ranken sich Geschichten um die Instrumente und um die Aufträge zu ihrem Bau – und darum, wie Auftraggeber und -nehmer zueinander fanden. Ohne in die Details einzelner Geschichten einzugehen: Es ist fantastisch, wenn Ralf Müller zu erzählen anfängt und er in Erinnerungen schwelgt, wenn man merkt, wie sehr das Orgelgeschäft Empfehlungssache ist – und wenn erkennbar wird, wie wichtig das „Ich kenn‘ einen, der einen kennt, der einen kennt…“ ist, um den Bogen von Rietberg nach Japan beispielsweise zu schlagen. Ralf Müller ist reich an solchen Geschichten, die Zuhörer staunen lassen. Manchmal braucht es einfach das Kennenlernen, den direkten Kontakt, um Vertrauen zu entwickeln: Als ein Kirchenoberer in Kroatien ihn begrüßte mit den zwei Hinweisen „Wir wollen eine Orgel!“ und „Wir haben wenig Geld.“, war das noch kein K.o.-Kriterium. Der Kirchenmann fragte nach dem Preis, der Orgelbauer nannte ihn – und in Windeseile war das Geld auf dem Konto, weil man sich vertraute. „Orgelmusik durchdringt dich, ergreift dich“, sagt er über seine in jeder Preisklasse beeindruckenden Instrumente. Eine relativ einfache Orgel ist zu haben schon ab 50.000 Euro. Es gibt aber auch solche, die besonders hohe Ansprüche erfüllen sollen: Zwei Millionen Euro hat die (nicht aus Rietberg stammende) Orgel der Elbphilharmonie gekostet – und auch da ist preislich noch nicht Schluss.


Eine bedeutende Speith-Orgel in der Region steht in Rheda-Wiedenbrück in der St.-Aegidius-Kirche – mit 54 Registern. Sie wurde 1913 in einem neogotischen Gehäuse gebaut, später verändert und erweitert. Zuletzt 2007 wurde das Instrument technisch neu errichtet. Nicht immer aber ist die Orgel ein Kircheninstrument, Beispiel: Gütersloh. Dort in der Stadthalle wurde bei ihrem Entstehen eine Orgel eingebaut, mit 38 Registern. Besonders häufig genutzt wurde sie nicht, manchmal aber wurde sie, die eigentlich hinter einer Wandverkleidung über der Bühne des Großen Saals versteckt ist, freigelegt und durfte Eindruck machen. Viel aber hat sie gelitten. Nikotin hat ihr besonders zugesetzt in der Zeit, als man in Veranstaltungshallen noch rauchen durfte. In den vergangenen Wochen und Monaten haben die Orgelbauer aus Rietberg sie mühsam davon befreit, das Instrument in seine Einzelteile zerlegt und neu aufgebaut. Eine Industriellen-Familie sponsort den immensen Aufwand sehr großzügig – und alle sind sich sicher: „Gütersloh könnte ein Standort der modernen Orgelmusik werden.“ Ein solches, besonderes kulturelles Merkmal stünde der Stadt, nachdem die bisherigen Besonderheiten, wie beispielsweise die
hochkarätige Jazz-Musik in den 80er Jahren oder die Zwölftonmusik unter früheren Kulturverantwortlichen eine große Rolle spielte, aber heute nicht mehr spielt. Ein anderer, unerwarteter Ort für eine Speith-Orgel ist heute keiner mehr: Im Landesgartenschau-Park der Stadt Rietberg stand die erste Freiluftorgel Deutschlands mit 168 Pfeifen. Sie lud Besucher dazu ein, sich an der Musik auszuprobieren. „Orgeln halten viel aus – nur keinen Vandalismus.“, seufzt Ralf Müller über den Verlust. Im Orgelbau ist der Mann Generalist, bei Kunden anerkannt: Er kreiert, plant, wählt Register mit seinen Auftraggebern aus, stimmt Klangvorstellungen ab, übernimmt alte Register und Techniken. Entsprechend hoch ist der Reiseaufwand, um gemeinsam passgenaue Lösungen zu finden.
Doch der Orgelbau ist alles andere als romantisch verklärt, das Geschäft mitunter knallhart – und begrenzt. „Der Markt wird weniger“, sagt Orgelbauer Müller. Das liegt gewiss an dem Rückgang der Zahl der Kirchenmitglieder aus unterschiedlichen Gründen, an der Entwidmung hunderter Kirchen in Deutschland beispielsweise – aber auch an der langen Haltbarkeit der Instrumente. Und neben dem Schwund der Kirchen und ihrer Mitglieder sind auch immer weniger Geistliche in der Lage, das Instrument zu spielen – und an Organisten fehlt es auch. Für Ralf Müller kommt ein weiteres Problem hinzu: Der Traditions-Standort inmitten der Stadt Rietberg ist alles andere als praktisch. Die Einlagerung der Hölzer findet ganz oben auf dem Boden des Hauses statt. Durch eine enge, vollkommen unpraktische Bodenluke wird das Material zur Verarbeitung geholt – früher knifflig, heute unter modernen Arbeitsschutzgedanken aber an den Grenzen des Zumutbaren. Dann und wann überlegt Ralf Müller und denkt ans Aufhören. Und dann wird es nach seiner Einschätzung kein zweites 1995 geben: Damals übernahm er den Betrieb von seinem Vater. Er selbst sieht für sich keinen Nachfolger weit und breit – insbesondere aus den oben
genannten Gründen. Das wäre dann das Ende einer besonderen musikalischen Ära im Kreis Gütersloh, das noch
gern auf sich warten lassen darf. Vor gut sieben Jahren hat der Orgelbauer schon einmal bei einem Tag der offenen Tür gesagt: „Wir fertigen Dinosaurier, und die sind auch irgendwann ausgestorben.“ Doch Ralf Müller selbst als Wandler zwischen Ratio und Leidenschaft ist wohl der beste Garant dafür, dass sich das mögliche Finale im Rietberger Orgelbau noch einige Zeit hinziehen wird.

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