Text und Fotos: Thorsten Wagner-Conert
Sie haben Gemeinsamkeiten: „Industriepolsterin“ ist ihr Ausbildungsberuf, der Sitzmöbel-Produzent COR in Rheda-Wiedenbrück ist ihre (derzeitige) berufliche Heimat, dessen Unternehmenskultur ihr verbindendes Element. Und doch sind Susanne Schlenke und Nelly Pagenkemper unterschiedlich: Die eine kam 1983 zu COR, die andere im Jahr 2022.
Wie Seelenverwandte
Susanne Schlenke ist 59 Jahre alt. Nach ihrer Ausbildung hatte Seniorchef Helmut Lübke sie motiviert, die Meisterschule zu besuchen. Sie schloss als Beste ihres Jahrgangs ab und blieb COReanerin (wie sie bei COR sagen) – bis heute. Sie übernahm die Leitung des Zuschnitts, des Lederzuschnitts und der CAD-Anlagen. Seit vier Jahren ist sie Ausbilderin in der Lehrwerkstatt. Eine ihrer Auszubildenden ist Nelly Pagenkemper, 20 Jahre alt. Sie hat 2021 in Gütersloh das Abitur gemacht, ihr Freiwilliges Kulturelles Jahr im Bunker Ulmenwall in Bielefeld absolviert. Sie befindet sich jetzt im zweiten Jahr ihrer Ausbildung bei COR.
Beide wirken wie Seelenverwandte, Seelenverwandte mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen: Susanne Schlenke besuchte nach dem Fachabitur noch die Berufsfachschule für Holztechnik, aber: Als Angehörige der Babyboomer-Generation hatte sie es sehr schwer, überhaupt eine Lehrstelle zu bekommen. Als Frau in einer männlichen Domäne zu arbeiten, schien fast unmöglich – auch aus vergleichsweise banalen Gründen: Weil es in den von Männern dominierten Betrieben gelegentlich nicht mal sanitäre Einrichtungen für unterschiedliche Geschlechter gab, wurde man als Frau erst gar nicht genommen. Die Schwester des heutigen geschäftsführenden Gesellschafters Leo Lübke, Maria, war Susanne Schlenkes Schulfreundin und hatte angeregt, „wenn du was Kreatives machen willst, frag doch mal bei COR nach.“ Nach einem Tag Probearbeit hatte Susanne die Lehrstelle bekommen. Verschiedene Werkstoffe: Metall, Holz, Kunststoff, Stoff, Leder – das hatte sie einfach begeistert. Nelly Pagenkemper teilt diese Begeisterung. Die Bewerbungshürden der 1980er-Jahre blieben ihr erspart. Was vielleicht auch an Menschen wie Susanne Schlenke liegt, die den Weg frei gemacht haben für eine freie, offene Berufswelt. Und sehr wahrscheinlich ist, dass es auch mit einer offenen, wertschätzenden und achtsamen Unternehmenskultur zu tun hat, die man bei COR förmlich atmen kann.
„Ich wollte immer bei COR bleiben“
Nelly Pagenkemper nimmt ihre Chefin so gar nicht wahr als konservative Frau mit alten Lebensideen; im Gegenteil: „Suse (den Namen spricht sie herzlich-freundschaftlich) ist weltoffen, offen für Azubi-Ideen, Fähigkeiten und Tätigkeiten. Sie folgt nie einer Linie, die ihr jemand vorgesetzt hat, sie hat immer ihren eigenen Weg eingeschlagen.“
Die Auszubildende folgt ihrer Ausbilderin im Berufsbild der Industriepolsterin – dem Namen nach. In der Zwischenzeit ist halt viel passiert: Der Zuschnitt hat Computerunterstützung erfahren, die Geschlechterdiskussion ist erledigt, das berufliche Miteinander funktioniert duzend und partnerschaftlich.
Dem „Designerladen mit Anspruch“ hatte schon Gründer Helmut Lübke die besondere Aura verliehen, die Sohn Leo Lübke seit 1994 weiter pflegt – eine Aura, in der man sich geborgen und verstanden fühlt: „In Rheda-Wiedenbrück wusste man halt, dass Helmut Lübke unheimlich sozial war. Und die COReaner sind eine große Familie.“, so beschreibt Susanne Schlenke einen wesentlichen Grund, weshalb sie immer dablieb. „Das ist mein Weg, ich mache einen COR-Weg“, sagte sie sich, weil es nicht nur Kollegen waren, sondern viel mehr dahinter war. „Für mich war klar: Ich möchte immer bei COR bleiben. Und ich wollte hier auch immer in Rente gehen.“
Susanne Schlenke ist Nelly Pagenkemper ein Vorbild – „in dem, was sie erreicht hat.“ Denselben Weg wird sie trotzdem nicht gehen. Zum einen ist die Ära der berufslebenslänglich selben Arbeitgeber eine, die heute Raritätscharakter hat. Andererseits ist die Welt offener geworden für eigene, vielfältige Wege, die auf persönliche Belange Rücksicht nehmen: „Ich möchte nach der Ausbildung noch studieren, weil ich weiß, dass ich körperlich aufgrund einer chronischen Erkrankung nicht unbedingt fähig bin, den ganzen Tag zu stehen“, sagt Nelly Pagenkemper. Und doch ist sie mit dem COR-Virus infiziert: Ein Produktdesign-Studium interessiert sie, eines, das inhaltlich an die COR-Ausbildung anschließt. Schließlich sei sie durch COR geprägt – und für schöne Dinge habe sie sich schon immer interessiert. Ihrer Chefin macht sie ein dickes Kompliment: „Mit 59 will ich auch gerne so sein.“
COR-Geist als gemeinsamer Nenner
Die Ausbilderin kennt die jungen Leute und ist sich bewusst: „Die Welt ändert sich, und sie macht das immer schneller – die Arbeitswelt auch. Zu meiner Zeit gab’s kein Handy – heute sind alle fokussiert auf Medien.“ Alle Azubis hätten unterschiedliche Motivation: Der eine möchte selbstständig arbeiten, der andere braucht mehr Unterstützung, die Selbstverwirklicher kommen mit eigenen Ideen um die Ecke – und die Auszubildenden werden immer älter bei Eintritt in die Ausbildung.
Mit 15, 16 Jahren seien die Lehrlinge früher nach der Hauptschule in die Ausbildung gegangen. Heutige Azubis fangen meistens mit 19, 20 und einem besseren Schulabschluss an.
Susanne Schlenke empfiehlt nicht zwingend ein Studium nach der Ausbildung, aber: Weiterbildung sei ganz wichtig im Computerbereich, im Zuschnitt – und die Meisterschule kann auch ein Weg sein. Dabei wirbt sie dann doch für den COR-Weg: „Die Jahrgänge 1963, 64, 65, die stehen bei uns in der leitenden Funktion und die gehen irgendwann in Rente. Wir brauchen Nachfolger.“ Und Nelly Pagenkemper bekräftigt sie darin: „COR ist halt superfamiliär. Die Kollegen hier wissen, wer ich bin, wie ich heiße, was ich mache … Neben der Arbeit steht das Zwischenmenschliche ganz vorne.“
Der COR-Geist ist der gemeinsame Nenner aller Jahre zum Trotz, die zwischen beiden liegen. Die Auszubildende wird nach Abschluss der Ausbildung ihren eigenen Weg weitergehen, was dem außenstehenden Betrachter fatal erscheint. Nelly Pagenkemper selbst sagt: „Du hast das Gefühl, du wirst hier richtig gut behandelt – insofern fällt es mir leicht, in dieses Unternehmen verliebt zu sein.“ Die aktuellen Entwicklungen am Arbeitsmarkt, die New Work- Generation mit einer eher fordernden Attitüde, nimmt sie differenziert wahr:
„Viele in meiner Generation stellen das eigene Wohlbefinden ganz vorne an. Viele, die schon ewig lange im Unternehmen sind, haben natürlich auch ihre Makel, weil sie so viel gearbeitet haben. Das Gefühl meiner Generation ist: Wir wollen uns nicht kaputtarbeiten. Daher kommen auch die gestellten Ansprüche. Und die Situation ist gerade so, dass man diese Ansprüche auch formulieren kann.“ Ihre Überzeugung ist, realistisch zu bleiben. Es sei eben auch immer noch Arbeit. „Man möchte ja auch Leistung erbringen und man möchte auch ernstgenommen werden. Und mit überzogenen Ansprüchen wirst Du eben nicht ernstgenommen.“
Akzent auf Wertevermittlung
Susanne Schlenke bestätigt, dass sich viel geändert habe in den Jahren: „Azubis auf den Ausbildungsmessen werden umworben mit einer Vier-Tage-Woche. Dabei gehen die ja auch noch zwei Tage zur Schule. Wann soll ich denen den Stoff vermitteln, Kreativität fördern?“, gibt sie zu bedenken, wohl wissend, dass entgegen früherer Praxis heute auch ein ganz wichtiger Akzent auf die Wertevermittlung gelegt werden muss in der Ausbildung.
Ein Berufsbild wandelt sich über die Jahre, der Wert der Arbeit und der Anspruch an sie auch. Auf der Suche nach dem Verbindenden und dem wirklichen Unterschied zwischen Ausbilderin und Auszubildender dokumentieren beide mehr inhaltliche Nähe als Diskrepanz:
Susanne Schlenke betont, dass das Arbeiten heute anders sei als früher: „Mit viel Spaß, viel lockerer, wir unternehmen auch viel mit den Azubis.“ Zwischen ihr und Nelly gebe es wenig Unterschiede: „Wir teilen unser Gespür für Geschmack mit Leidenschaft.“
Nelly Pagenkemper sieht Differenzen eher chronologisch: „Der Unterschied zwischen uns ist, wo wir gerade im Leben stehen. Suse kümmert sich um ihre Rente und ich mich um die Frage: Wo geht es für mich hin?“
Zwei unterschiedliche Lebenswege, die über einen wohltuenden Abschnitt parallel verlaufen – und zwei Menschen, die der Welt mit Anspruch und Sinn für das Gute begegnen.