500 Meter Metropole in Gütersloh

Text: Kathrin Jünger . Fotos: Detlef Güthenke

Die 100.000-Einwohner-Marke hat Gütersloh schon vor ein paar Jahren geknackt und damit auch endlich den Status „Großstadt“ erreicht. Aber seien wir mal ehrlich – so richtig städtisch fühlt sich der Gang durch das Zentrum meistens nicht an. Die Gütersloher lieben das Gewohnte: Den Backfisch auf dem Wochenmarkt, „Freitag18“ am Dreiecksplatz und alljährlich wiederkehrende Veranstaltungen wie den Weinmarkt und „Gütersloh International“. Aber auch letzteres ja nicht, weil sie so kosmopolitisch unterwegs wären, sondern weil man hier, wie sonst auch überall, ganz sicher sein kann, an jeder Ecke auf bekannte Gesichter zu treffen und das übliche Programm geboten zu bekommen. Gütersloher Leben halt, da weiß man, was man hat.

Wagt man sich aber einmal über die Rathaus-Kreuzung hinaus, dann bietet sich die Chance, doch noch auf ein bisschen echtes Großstadtleben zu stoßen. Nämlich auf den ungefähr 500 Metern zwischen Holiday Inn Express und Rewe in der Berliner Straße. Hier findet man den vielleicht kleinsten Kiez der Welt, das „Veedel“, wie es die Kölner sagen würden, in dem es alles gibt, was man braucht, um sich so richtig wie ein Stadtbewohner zu fühlen.

Vor dem Hintergrund des Rauschens der B61 und der regelmäßig ertönenden Sirenen der nahegelegenen Feuerwache könnte man manchmal meinen, die Straße hätte ihren Namen tatsächlich in Anlehnung an unsere Hauptstadt erhalten. Wer hier lebt oder arbeitet, muss sich eigentlich kaum aus dem eng gefassten Umkreis bewegen, um mit allem versorgt zu sein, was es im Alltag so braucht. Da gibt es zum Mittag die Auswahl zwischen Döner, indischem Lieferessen oder geschäftstermintauglichem Italiener; da gibt es den Rewe für „wenn das Klopapier ausgeht“ und griechische Backwaren für den Nachmittagskaffee. Wer dort etwas ergattern will, muss sich allerdings beeilen, denn von hier aus werden offenbar sämtliche Geburtstags- und Hochzeitsfeiern im Umkreis mit Torte versorgt. Hat man es trotzdem zuwege gebracht, sich zu überfressen oder leidet an sonstigen Zipperlein, hilft ein Besuch der Apotheke direkt gegenüber, und für die passende Hose mit Platz für die Kuchenplauze sorgt der wohl edelste Second-Hand-Shop der Stadt. In der Regel hat man also wenig Grund, sich noch weiter in die Einkaufsstraße vorzuwagen.

Die Menschen, die hier wohnen, bilden einen perfekten Querschnitt durch die Bevölkerung, wie sie sich in echten Städten gestaltet. Auf der Straße begegnen einem Anzugträger der ansässigen Versicherungen oder ältere Herrschaften aus dem HWilhelm-Florin-Zentrum, die auf dem Weg zum Arzt oder auf Spaziergang sind. Gruppen junger bärtiger Männer versammeln sich nach dem täglichen Körperpflegeprogramm zum Austausch von Neuigkeiten vor dem Barbershop, und zur richtigen Tageszeit sieht man sogar ein paar
Touristen: solche, die aus den umliegenden Dörfern zum Shoppen angereist sind und hier die fußläufigen Parkmöglichkeiten nutzen oder solche, die vor dem Holiday Inn mit ihren Koffern aus Reisebussen steigen. Man weiß natürlich nicht, was sie hierher verschlagen hat, aber es fühlt sich dann doch an, als könnte Gütersloh ein beliebtes Urlaubsziel sein.

Selbstverständlich ist das alles nicht schon immer so. Die Berliner Straße hat sich in den vergangenen 50 Jahren ebenso stark verändert wie viele andere Stadtteile in Gütersloh. Manch einer blickt sicherlich mit Wehmut auf diesen Wandel. Wer früher noch seinen defekten Farbfernseher zu Radio Femmer trug, um dort doch noch ein paar Lebensjahre für das gute Stück herauszuschlagen, findet heute nur noch eines der inzwischen wie Pilze aus dem Boden schießenden
Wettbüros. Auch der einst so beliebte Werbeslogan „Heute bleibt die Küche kalt, wir gehen in den Wiener Wald“, der in der gleichnamigen Lokalität zu halbem Händel mit Leipziger Allerlei einlud, ist inzwischen verklungen, der Optiker abgewandert und die alte Kegelbahn in den Ruhestand versetzt. Und selbst das letzte Fachwerkhäuschen, das einmal als eines von vielen den Büskerplatz zierte, ist schon vor geraumer Zeit im Ganzen transloziert worden. Stattdessen gibt es hier und da Leerstand und Läden, bei denen man sich nicht immer ganz sicher sein kann, welchen Geschäften sie eigentlich nachgehen.

Gleichzeitig ist das Bild aber auch bunter geworden. Abends zum Beispiel, wenn die ansässige Shisha-Bar den roten Teppich ausrollt. Dann wird die Jugend in Papas SUV herangekarrt und strömt in kleinen Trüppchen an die Wasserpfeifen. Im Sommer, wenn einen nach der eilig gerauchten Zigarette die Kälte nicht sofort wieder hineintreibt, wird auch gerne noch ein bisschen auf dem Gehweg palavert oder die neue Leasing-Karre des besten Kumpels begutachtet. Manchmal muss dann zu Demonstrationszwecken auch der Motor malträtiert oder die Bassanlage aufgedreht werden. Da kann es dann schon etwas lauter zugehen und die Polizei wegen Lärmbelästigung auf den Plan gerufen werden. Keine große Sache, so geht es nun mal zu in der Stadt. Und für die Gäste der Trattoria gegenüber, die einen lauen Abend ebenfalls ganz gerne an einem der Straßentische genießen, wird so immerhin gleich noch etwas Unterhaltung zu Chianti und Pizza serviert.

Am Tage ist es zu manchen Zeiten ziemlich ruhig, wenn alle arbeiten oder den Schulweg bereits hinter sich gebracht haben. Dann herrscht lediglich ein gemächliches Treiben, bei dem manch einer seine Zeit damit vertrödelt, von Laden zu Laden zu schlendern und mit jedem, der ihm begegnet, ein Pläuschchen zu halten. Dieses Treiben wird in der Regel nur zur Rush-Hour unterbrochen, die zumindest an der Ecke Berliner Straße/Eickhoffstraße richtig städtische Staus verursachen kann. Wenn der Linienbus hier beim Abbiegen auf den UPS-Lieferwagen trifft, ist das Gehupe manchmal nicht weniger aufgeregt als am Kotti in Berlin, und auch die Streitigkeiten zwischen Auto- und Radfahrern an diesem Knotenpunkt können sich durchaus hören lassen.

Allgemein ist man aber auch in hektischen Momenten freundlich miteinander. Da die Parkplätze rar sind und nur zwei Stunden lang genutzt werden dürfen, werden Parktickets bei kürzerem Aufenthalt gerne brüderlich geteilt. Wer will schon 50 Cent bezahlen, wenn man doch eigentlich nur kurz quer auf dem Gehweg stehen und sein Hermes-Päckchen beim Computerladen abholen muss? Das kann zwar ab und zu länger dauern, wenn man sich dort in die lange Schlange der Online-Shopper einzureihen hat, aber etwas Geduld kann man von sich selbst jawohl ebenso verlangen, wie von den anderen, denen man damit den Weg verbaut. Wer ein kleineres Delikt wie dieses begeht oder hier einfach täglich vor der Aufgabe steht, sein Auto irgendwo abzustellen, ist übrigens immer auf der Hut. Denn auch die Damen vom Ordnungsamt erfreuen sich großer Bekanntheit. Sie sind zwar gutmütig und bei freundlicher Ansprache sogar nachsichtig, ihrer Aufgabe gehen sie aber stets mit großer Ernsthaftigkeit nach. Es empfiehlt sich daher, sich mit ihnen auf guten Fuß zu stellen. Gelingt das, darf man als Ortsansässiger auch mal vom Balkon runterrufen, dass man schon quasi im Wegfahren war, und kann so ein Knöllchen manchmal noch abwenden.

Und noch etwas ist hier anders als in den schnieken Neubausiedlungen, die man in Gütersloh inzwischen immer häufiger findet: Man kennt sich und auch irgendwie nicht. Während man als Eigenheimbesitzer seine Nachbarn meist mit Vornamen anspricht und immer gleich in eine gewisse Aufregung gerät, sobald ein unbekanntes Auto vor dem Haus parkt, ist man hier schon froh, wenn man weiß, welche Wohnung gerade überhaupt bewohnt ist. Es wird viel her-, weg- und umgezogen, da kommt man nicht immer hinterher. Trotzdem lebt man in der Berliner Straße nicht gänzlich anonym. Am Ende begegnet man auch hier den immer selben Menschen auf den immer selben Wegen. Und auch wenn man nicht unbedingt weiß, dass der Herbert Herbert heißt oder die Gülsha eben Gülsha – wer schon länger hier lebt, wird trotzdem alle paar Meter von irgendwem gegrüßt. Man kennt sich halt doch, zumindest vom Sehen.

Alles ganz schön städtisch also. Was den kleinsten Kiez der Welt von Neukölln oder anderen In-Vierteln in echten Metropolen unterscheidet, ist dann auch eigentlich nur eins: Gentrifizierung. Die hat hier bisher nämlich noch nicht eingesetzt. Noch sind die Gebäude eher älteren Semesters als auf dem neuesten Stand und die Mieten für die super zentrale Lage mehr oder weniger erschwinglich. Aber was nicht ist, kann ja noch werden – vielleicht findet sich demnächst ein Investor, der die Gunst der Stunde nutzen möchte. Natürlich wünscht sich das hier niemand wirklich, die Berliner Straße ist schon ganz gut so wie sie ist. Wenn es denn aber ganz unbedingt sein muss, könnte man ja vielleicht mit einer hippen Kaffeebude beginnen. Oder mit einem kleinen französischen Straßencafé. Platz gäbe es dafür, denn das alte Sonnenstudio steht schon viel zu lange leer und so richtig guten Kaffee mit allem Zipp und Zapp haben wir hier tatsächlich noch nicht.

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