Foto: Detlef Güthenke

Den Blick auf Vergangenes schärfen – mit neu gedachten Räumen. Die Geschichte des Museums Peter August Böckstiegel zeigt eindrucksvoll, wie man sich aufs Neue mit dem Alten auseinandersetzen kann. An einem Ort, an dem sich Kunst, Esprit und Naturerlebnis die Hand reichen.

Werke geprägt von der westfälischen Heimat

„Westfälischer van Gogh“ nennen heute einige Kritiker anerkennend jenen Künstler, der in Werther-Arrode nicht nur geboren wurde, sondern auch 1951 im Elternhaus verstarb. Zurückgelassen hat er ein imponierendes Werk, das eine Vielzahl von Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen und Druckgrafiken ebenso umfasst wie gestaltete Glasfenster, Skulpturen, Reliefs oder farbenfrohe Möbel.
Seine Motive sind geprägt von der westfälischen Heimat. Die wogenden Felder, die rote Erde, die gezeichneten Menschen. Böckstiegel selbst hat es einmal so formuliert: „Als Gestaltender suche ich die beglückende Reinheit der Natur; der berauschende Duft der Blume, die organische Lebenskraft, die Steckrübe, die Kartoffel, der Apfel, die Birne, der Baum, das Feld, der Himmel, der trübe und sonnige Tag, die sprühende Luft, das schimmernde Licht ballt alle Gegenstände geschlossen zueinander.“
David Riedel hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Menschen die Bedeutung Peter August Böckstiegels zu vermitteln. Seit 2012 ist der Kunsthistoriker Leiter des Museums. Anfangs war das Museum jenes kleine Bauernhaus, in dem Peter August 1889 geboren wurde. Böckstiegel selber nahm immer wieder Veränderungen vor, um es für seine künstlerische Arbeit anzupassen. So entstanden Ateliers, eigene Räume für Bildhauerei oder Malerei, stilvolle Fenster. Seit 2009 steht das Haus, das sich auch ganz ausgezeichnet als Drehort für eine Verfilmung von „Pettersson und Findus“ eignen würde, unter Denkmalschutz. Ein Jahr zuvor wurde die Peter-August-Böckstiegel-Stiftung gegründet – mit dem Ziel, Böckstiegels Werk zu verbreiten und das Künstlerhaus der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Doch dass ein ursprünglich aus dem Jahr 1826 stammendes Fachwerkhaus nicht der optimale Ort ist, um das umfangreiche Werk Böckstiegels zu präsentieren, sollte selbst jenen einleuchten, die van Gogh für eine niederländische Hörgerätemarke halten. Was also tun? Zum 125. Geburtstag des Künstlers Peter August Böckstiegel fasste der Kreis Gütersloh den Entschluss, ein Museum in unmittelbarer Nähe des Geburtshauses zu bauen, auf dem ehemaligen Kornacker der Familie. 314 Architekten nahmen an einem international ausgeschriebenen Wettbewerb teil, aus dem ein Büro aus Lemgo siegreich hervorging. 2018 wurde der Neubau nach nur zweijähriger Bauzeit eröffnet. Rege wurde über die Umsetzung dieser Architekten-Idee diskutiert: Wie ein „Findling auf der Wiese“ sollte das Museum vor dem Künstlerhaus liegen. Naturmaterialien wie Muschelkalk an der Gebäudefassade und das etwa in Fensterrahmen eingesetzte Eichenholz sollten einen Gegenpol zum bewusst modern gehaltenen Inneren setzen. Die Idee kam an. Zwei Auszeichnungen hat der Neubau seither erhalten, den Architekturpreis vom Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) OWL und den Deutschen Landschaftsarchitektur-Preis in der Kategorie „Atmosphärische Räume“ für die Gestaltung und Einbeziehung der umliegenden Landschaft durch die Planergruppe Oberhausen.

„Findling auf der Wiese“

„Der Museumsbau schafft schon architektonisch kongenial eine Verbindung zwischen Neu und Alt – durch die großen Panaroma-Fenster im Museumsfoyer“, betont David Riedel. „Für das Museums-team ist es von besonderer Bedeutung, das Museum als ganzjährig offenen und inklusiven Ort bekannt zu machen. Das alte Künstlerhaus – für viele Besucherinnen und Besucher besonders und auch wiederholt interessant – soll dagegen für besondere Anlässe vorbehalten sein.“ Das Haus sei nur mit Führungen zu besichtigen, was die große Bedeutung der Kunstvermittlung für das Museum aufzeige. „Das Künstlerhaus ist durch den Standort des neuen Museums nicht verändert oder beeinträchtigt worden“, führt der Kunsthistoriker aus. „So kann anhand des rund 200 Jahre alten Hauses die Herkunft des Künstlers, seine zeitlebens enge Verbindung zu Familie und Heimat und auch seine künstlerische Beschäftigung mit dem alten Kotten gezeigt werden.“
Dass der „Findling auf der Wiese“ die Museumsarbeit auf ganz neue, professionelle Beine gestellt hat, zeigen die Zahlen. „Seit 2018 sind mehr als 75.000 Besucherinnen und Besucher nach Werther gekommen und können das Werk von Peter August Böckstiegel nun unter musealen Bedingungen und mit einem zeitgemäßen Vermittlungskonzept kennenlernen oder neu- und wiederentdecken“, betont der Museumsleiter. Das inzwischen ganzjährig offene Haus habe auch dafür gesorgt, dass der P.A. Böckstiegel-Freundeskreis nun rund 400 Mitglieder habe. „Museumskolleginnen und -kollegen, die nach Werther kommen, sind zuallermeist sehr angetan von der Verbindung von ‚Neu‘ und ‚Alt‘ des Museumsensembles, von der Größe des Museums und seiner Nutzung für die Vermittlung eines Künstlerlebens“, führt der Kunsthistoriker aus. „Durch die Corona-Pandemie wurde unsere Absicht, den Künstler weit über die Grenzen von Werther hinaus bekannter – und damit das Museum zu einem attraktiven touristischen Ziel – zu machen, etwas gebremst.“ Mit der ersten Ausstellung 2023 solle aber erneut gezeigt werden, dass auch in der „Provinz“ spannende und qualitätsvolle Kunst geschaffen worden sei. Die Schau „Westfälische Wege in die Moderne – Die Künstlergruppen ‚Rote Erde‘ und ‚Der Wurf‘“, die vom 15. Januar bis zum 23. April 2023 zu sehen sein wird, wird anhand von 70 Gemälden, Arbeiten auf Papier und Skulpturen sowie Möbeln und Silberschmuck ein bislang wenig bekanntes Kapitel der westfälischen Kunstgeschichte vorstellen: Die Geschichte der Künstlergruppen „Rote Erde“ und „Der Wurf“.

Bilder im Kopf

Keine Frage: Solche Sonderausstellungen, die nicht nur einen Blick auf Böckstiegel, sondern auch auf verschiedene Kunstströmungen und die wechselvollen historischen Rahmenbedingungen für die Kunstproduktion ermöglichen, sind erst dank des Neubaus realisierbar. Damit einhergeht ein umfangreiches Vermittlungsprogramm, das von regelmäßigen Führungen über Workshops bis zu Kindergeburtstagen reicht, die auf dem Museumsgelände stattfinden.
„Eine Besonderheit der Museumsarbeit ist die Einbindung von ehrenamtlich Engagierten“, berichtet Lilian Wohnhas, die beim Museum Peter August Böckstiegel für die Öffentlichkeits- und Vermittlungsarbeit zuständig ist. „Das sind mittlerweile mehr als 60 Menschen, die sich dank der Peter-August-Böckstiegel-Stiftung weitergebildet haben, um bei Ausstellungen zu helfen.“ Zu ihren Aufgaben zählt beispielsweise der Besucher-Service und die Aufsicht der Kunstwerke in den Ausstellungsräumen. „Dieser ehrenamtliche Einsatz vieler Menschen, die aus Werther und Umgebung kommen, zeigt die Verbundenheit des Museums mit der Region“, erläutert Lilian Wohnhas. Zu dem Bildungsauftrag des Museums gehört auch, junge wie ältere Zielgruppen in ganz Ostwestfalen anzusprechen. „Ein fester Bestandteil sind Führungen für Schulklassen“, berichtet sie. Dass gut gefüllte Busse aus den Kreisen Minden, Herford, Gütersloh oder Bielefeld in der Schloßstraße in Werther vorfahren, gehört zum Museumsalltag dazu, wenn nicht gerade ein globaler Virus mal wieder das Schulleben durcheinanderbringt. „Wir bieten auch spezielle Führungen für Lehrkräfte an, um sie für unsere Museumsarbeit zu begeistern“, führt Lilian Wohnhas aus. Durch die Lage des Museums im Grünen ist es ein Ausflugsziel besonderer Art. Ausstellungsraum und Künstlerhaus sind eingebettet in ein Wegenetz, das an Streuobstwiesen ebenso entlangführt wie am Museumscafé Vincent. Wo kann man schon so authentische Einblicke in den Künstleralltag erhalten – und sich zugleich ein Bild von all den Brüchen machen, die das Leben eines Menschen im 20. Jahrhundert kennzeichnen konnte?
Die geradezu idyllische Lage des Museums irgendwo zwischen Werther und Bielefeld entpuppt sich zugleich als Herausforderung. Schließlich ist es nicht fußläufig von einem Bahnhof erreichbar. Ein Bus-on-demand-Angebot verbindet immerhin Werther und Museum. Und wer gerne länger wandert oder mit dem Rad unterwegs ist, kann auf dem Weg aus Werthers Zentrum die 17 Stationen des Böckstiegel-Pfads aufsuchen. Die roten Stelen markieren Orte, die den Künstler inspiriert haben. Auch so entstehen Bilder im Kopf. Zum Beispiel davon, wie es hier wohl in jenen Zeiten ausgesehen hat, als van Gogh sich mit Ohrverband zeichnete.

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