Stadtarchiv? Da werden doch nur alte staubige Akten gesammelt. Und was gehen uns die „alten“ Geschichten von gestern an? Eine ganze Menge. Denn sie erzählen nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch etwas über die Gegenwart und die Zukunft. Ein Stadtarchiv ist ein wichtiger Hort dieser Geschichte und der Geschichten, die in unserer Stadt passiert sind.

Foto: Detlef Güthenke

Das Stadtarchiv zeigt, wie es früher ausgesehen hat: wie gebaut wurde, wie die Menschen gedacht und gehandelt haben. Wir können aus der Geschichte lernen, von ihr profitieren und damit Fehler vermeiden, die früher gemacht wurden“, sagt Julia Kuklik. Die 23-Jährige hat im September 2021 direkt nach dem Studium die Leitung des Gütersloher Stadtarchivs übernommen. Ihre Tätigkeit hat nur noch wenig mit dem früher üblichen Ordnen und Verwalten von Dokumenten zu tun. „Ich lese nicht nur in alten Akten. Neben der Archivarbeit bin ich auch Informatikerin, Archivpädagogin, Behördenberaterin und Budgetjongleurin, mache Führungen und Öffentlichkeitsarbeit.“

Ihr breitgefächerter Arbeitsbereich umfasst auch Bildungspartnerschaften mit dem Städtischen Gymnasium, der Anne-Frank-Gesamtschule und der Elly Heuss Knapp-Realschule. Bei Projekttagen oder Führungen lernen Schülerinnen und Schüler das Archiv kennen, das sich nach dem Umzug aus der Hohenzollernstraße in die Moltkestraße in hellen, modernen Räumen befindet. Es verfügt über ein großes Magazin und ist mit neuester Technik ausgestattet. Zudem besteht keine Hochwassergefahr, und die Feuerwehr ist direkt um die Ecke. Das Archivmaterial kann also bei Gefahr sehr schnell gerettet werden. Außerdem hat das Gütersloher Stadtarchiv mit den Archiven des Kreises einen Notverbund. Wie wichtig das ist, hat die Flutkatastrophe im vergangenen Jahr gezeigt, bei der sehr viele Archivunterlagen der betroffenen Archive und damit die Geschichte ganzer Städte verlorengingen.

Archivarbeit und vieles mehr
Mit dem Erzählcafé und der Geschichtswerkstatt, die gemeinsam mit dem städtischen Fachbereich Kultur veranstaltet werden, führt Julia Kuklik bereits bestehende Projekte fort. Dazu kommt noch das Projekt „C-City – Europa liegt nebenan“, bei dem im Workshop „History and Customs“ umfangreiche Projekte mit den Partnerstädten geplant sind. Da mit Jana Knufinke neben Julia Kuklik nur noch eine weitere Vollzeitkraft im Archiv arbeitet, hat die „klassische“ Archivarbeit manchmal das Nachsehen. Auch wenn demnächst ein FSJler (Freiwilliges Soziales Jahr) anfängt, fehlen Personalressourcen. „Es muss einfach gesehen werden, was für eine wichtige Arbeit ein Stadtarchiv leistet“, so Kuklik. Dabei dürfe auch nicht vergessen werden, dass das Archiv eine gesetzliche Aufgabe habe, die im Archivgesetz NRW von 2010 verankert ist. Dementsprechend müssten Archive ausreichend fachlich besetzt werden.
Zukünftig sollen die amtlichen Bestände bis 1910 digitalisiert werden. Dazu kommt demnächst die Digitalisierung audiovisueller Medien, sodass demnächst der Inhalt alter VHS-Kassetten im Lesesaal des Archivs zu sehen ist. Über www.zeitpunkt.nrw sind zudem lokale Zeitungen bis 1945 digital zugänglich. Auch das digitale Langzeitarchiv wurde eingerichtet, für das bald die ersten rein digitalen Übernahmen anstehen.

Für die nächsten Jahrhunderte aufbewahren
Die Einrichtung und Pflege des Langzeitarchivs ist sehr kostenintensiv. Denn nicht nur der Speicherplatz kostet Geld (Die Archivbestände werden aus Sicherheitsgründen zwei- bis dreifach gespeichert). Da die Unterlagen auch in ein paar hundert Jahren noch lesbar sein sollen, müssen sie in den passenden Dateiformaten eingepflegt und aktuell gehalten werden. Bei Fotos müssen zum Beispiel die ganzen Metadaten mitgenommen werden, um den Bit-Erhalt zu gewährleisten. Nur so kann man die Fotos und Dokumente am Ende so anschauen, wie sie im Original entstanden sind.
Die alten analogen Unterlagen, wie etwa Nachlässe, Karten oder Akten, werden im Magazin aufbewahrt. Das verfügt über beeindruckende 1,8 Kilometer Regalmeter und bietet ideale klimatische Bedingungen. Das finden nicht nur Schülerinnen und Schüler interessant, sondern auch zunehmend Genealogen oder Privatleute, die sich über die Vergangenheit informieren wollen. Dass Archive richtig viel zu bieten haben, macht sich inzwischen auch auf den Social Media-Kanälen bemerkbar.

Stadtgeschichte lebendig machen
Andreas Kimpel, Kulturdezernent der Stadt Gütersloh, spannt den Bogen noch weiter. Ihm geht es vor allem um die Transformation von Geschichte. Wie kann sie lebendig gestaltet und kommuniziert werden? Wie kann sie sich in die gesellschaftlichen Prozesse einer Stadt einfügen? So kann sich Stadtgeschichte aus dem Archivgebäude lösen und lebendig werden.
Kultur, als Teil der Geschichte, müsse sich in gesellschaftspolitische Zusammenhänge einmischen und könne sich aktiv in das Stadtleben einbringen, zum Beispiel bei der Stadtplanung, sagt Kimpel. Welche Rolle soll beispielsweie Kultur bei der Gestaltung der Innenstadt spielen? „Klimawandel und Nachhaltigkeit sind Themen, die wir in der Kultur aufnehmen. Genauso wie Gendergerechtigkeit. Hier wollen wir das Stadtarchiv als Akteur positionieren“, so Kimpel weiter.
Das geschieht zum einen durch die Fortschreibung der Stadtgeschichte von 1945 bis 2025. Bis 2025, wenn Gütersloh 200 Jahre Stadtwerdung feiert, soll der zweite Band der Stadtgeschichte fertig werden. Diese akribische Aufarbeitung der Geschichte einer Stadt von der Größe Güterslohs habe Modellcharakter, so der Kulturdezernent. Sein Wunsch ist es, dass die Stadtgeschichte später als „Living Document“ über ein Open-Source-System aktuell gehalten und jährlich fortgeschrieben wird.
Überregional hat Gütersloh zusammen mit der Stadt Hamburg das Netzwerkprojekt „Datenraum für Kultur- und Kreativwirtschaft“ auf den Weg gebracht. Bei diesem digitalen Innovationsprojekt, das vom Bund in den nächsten drei Jahren mit 10 Millionen Euro gefördert wird, ist Gütersloh Pilotstadt. „Wir schauen exemplarisch anhand verschiedener Use Cases, wie wir einen Datenraum entwickeln und aufbauen können. In diesem sollen Daten aus dem Kulturbereich zusammenlaufen und verknüpft werden können“, erläutert Andreas Kimpel.

Vernetzung mit anderen Wissensstandorten
Dabei spielt auch das Stadtarchiv eine wichtige Rolle. Informationen über Persönlichkeiten aus Gütersloh oder Gütersloher Ereignisse könnten direkt mit Museen, Archiven und den Playern der Kreativwirtschaft in der ganzen Bundesrepublik verknüpft werden. Das Ziel ist ein bundesweites übergreifendes System. Durch die Vernetzung der Gütersloher Stadtgeschichte mit den großen Archiven und Bibliotheken entsteht ein unglaublicher Mehrwert für die Forschung, denn dann kann von allen Standorten weltweit auf die Stadtgeschichte Güterslohs zugegriffen werden. Die Marktreife ist innerhalb der nächsten drei Jahre angestrebt. „Und das haben wir in Gütersloh zusammen mit Hamburg, Leipzig und dem Städtetag initiiert und auf den Weg gebracht“, sagt Kimpel. „Wir sind sehr stolz darauf, dass wir mit Fraunhofer Fit und Akatech von den Think Tanks Deutschlands begleitet werden.“

Stadtarchiv für alle!
Ist die gemeinsame vernetzte Datengrundlage erst einmal geschaffen, könnten als nächste Schritte Kooperationen mit der Games-Industrie folgen, meint Andreas Kimpel. Damit könne Stadtgeschichte auf modernste Art lebendig werden – und es entstünden ganz andere Arten der Geschichtsvermittlung oder des Geschichtsentertainments, die zum Beispiel auch den Schulunterricht enorm bereichern könnten. Bezogen auf die Ausstellung „Gütersloh um 1900“ in der Stadthalle wäre vorstellbar, dass man, ausgestattet mit einer VR-Brille, in einer Kutsche durch die Straßenzüge fahren könnte und das alte Gütersloh mit allen Sinnen erlebt. So könne klassische Archivarbeit in die Zukunft geführt werden. „Das ist mein kulturpolitisches Anliegen“, so der Kulturdezernent. „Und Gütersloh könnte an der Spitze einer solchen Bewegung stehen.“

In der unmittelbaren Gegenwart ist Julia Kuklik aber damit beschäftigt, das Stadtarchiv für Nutzerinnen und Nutzer noch attraktiver und benutzerfreundlicher zu machen. Denn das kann man nicht oft genug betonen: Das Stadtarchiv ist für alle offen und zugänglich!

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