Wie die zwangsweise, regelmäßige Neuerfindung Innovationen schafft
Text: Steffen Böning
Die guten, alten Zeiten werden zurzeit genauso oft als Wunsch geäußert wie die Sehnsucht, dass doch alles wieder so normal wie vor den virengetriebenen und militärischen Konflikten sein sollte. Gleichzeitig hört man aber auch an jeder Ecke die Forderung nach Innovation und die Notwenigkeit, sich täglich neu erfinden zu müssen. Wie passt das zusammen? Innovativ und dabei so zu sein wie früher!
Nach der Coronazeit werden viele Veränderungen als Innovation verkauft, obwohl sie eigentlich nur die späte, existenzrettende Reaktion auf eine externe Veränderung waren. Tickets durch eine Plexiglasscheibe hindurch zu verkaufen, ist genauso wenig eine Innovation wie aufgezeichnete Konzerte oder Theaterstücke im Internet abrufbar zu machen. Eine gewisse Firma namens YouTube lebt davon seit Jahren. Die Pandemie an sich war in den seltensten Fällen Treiber von Innovation, auch wenn sie natürlich in vielen Bereichen den Zwang nach Veränderung geschaffen oder erhöht hat. Aber der nicht abzusehende Veränderungsdruck von außen hat selten zukunftsfähige Innovation zutage gebracht. Genauso wenig waren Zwangsveränderungen in letzter Minute häufig erfolgreich. Agfa ist der Digitalfotographie ebenso wenig innovativ begegnet wie viele Plattenfirmen Spotify oder diverse Stadtmarketingbüros Amazon und Zalando. Wie das jeweils endete, wissen wir alle.
Mutiges Neues aus Überzeugung und nicht aus Notwendigkeit
Innovation heißt vielmehr aus eigenem Antrieb, aus intrinsischer Überzeugung, neue Dinge zu wagen. Dazu gehören Konzepte, Ideen und Formate, mit denen man glaubt, in der nächsten Entwicklungsstufe besser und erfolgreicher aufgestellt zu sein oder einfach einen künftigen Bedarf decken zu können. Der Schrei nach dem Guten von gestern ist dabei nur ein natürliches und verständliches Verhalten aller Menschen, da sie Sorge vor negativen Veränderungen haben und sich mit so einer Forderung bei einem Innovations-Misserfolg immer die Hintertür offen zu halten, um zu sagen: „Ich hab’s ja gesagt!“. Bei erfolgreichen Innovationen fordert niemand die Vorgängerversion zurück. Die Welt war mit intakterer Natur früher zweifelsfrei besser, aber ohne Penizillin natürlich nicht.
Ein Großteil aller neuen Ideen endet nicht in einer erfolgreichen Innovation. Dabei ist dieser Mut oder auch das Wissen um die Veränderungsnotwenigkeit essenziell. Deutschland lacht häufig noch lieber über den insolventen Kaufmann, anstatt zu würdigen, wie er mit viel Arbeit und seinem eigenen Geld bis zur letzten Minute versucht hat, Arbeitsplätze zu schaffen und etwas zum Bruttoinlandsprodukt beizutragen.
Innovation im sozial-kulturellen Bereich
Wie kennzeichnen sich nun Innovationen in der Sozialkultur imGemeinwohlwesen? Ein Unterschied ist, dass Innovationen aus diesen Bereichen meist erst gesehen und gewürdigt werden, wenn die gesellschaftliche Not groß ist. Auf das neue iPhone blickt jeder sofort und findet es höchst innovativ. Subkultur wie nicht-kommunale soziale Arbeit muss sich per se erst einmal täglich neu erfinden, nur um zu überleben.
Diese Spieler gelten dabei aber zunächst nicht als sonderlich innovativ. Bei ihnen heißt es immer wieder, mit einem Bruchteil der Mittel, mindestens genauso gute Arbeit zu machen wie staatliche Philharmonien, Theaterhäuser, Stadthallen und öffentliche Jugendzentren und Kinderhorde. Häufig wird die schnelle Veränderung dieser freien Spieler in „guten“ Zeit als störend und nervig wahrgenommen, und sie werden unter dem Deckel gehalten. Fallen dann auf einmal Tausende 3-jährige Kinder von Himmel, von denen das Sozialdezernat nichts ahnen konnte und keine Kindergartenplätze geschaffen hat, ist der Ruf nach den „nervigen“ freien Trägern jedoch schnell da. Wieso können diese besser und schneller solche häufig sogar absehbaren Probleme lösen? Ganz einfach: Weil sie vorher schon innovativ waren, agil handeln können und flexibel mit neuen Herausforderungen umgehen müssen.
Brauchen wir das schräge Kulturzentrum, auch wenn es nur eine geringe Förderung erhält? Es ist eh nur frech und bunt, und dabei haben wir doch das unproblematische Opernhaus, das doch auch sonntags vor Weihnachten eine Kinderoper präsentiert und bei Vorlage des Sozialpasses 5 Euro Familienrabatt anbietet – so wie seit 35 Jahren. Gibt es dann aber auf einmal mehr Menschen, die sich keinen Zugang zur traditionellen Kultur mehr leisten können oder den Zugang aufgrund von sprachlichen, kulturellen oder gesundheitlichen Barrieren nicht mehr wahrnehmen können oder wollen, hört man schnell Forderungen nach nierderschwelliger Kultur, die ja bekanntlich der so wichtige Kit der Gesellschaft ist. Und siehe da, wer hat schon seit vielen Jahren Seniorenchöre, internationale Theatergruppen und günstige interaktive Kindertheatervorstellungen im Programm? Wer lässt Ältere, Immobile oder Menschen mit Handicap auch schon ohne Corona digital an Podiumsdiskussionen teilnehmen? Die ebenfalls vor 35 Jahren gegründeten Sozialkultur- und Nachbarschaftshäuser! Diese und die freie Szene lösen jetzt bitte gerne mit ihren innovativen Formaten und Programmen die verrostete Hochkulturkrise.
Genialität oder Ziel des Systems?
Sind freie Sozialträger und Menschen, die in der Sozialkultur arbeiten, nun bezogen auf Innovation soviel genialer als andere? Sicherlich nicht. Es ist zweifelsfrei der positive Aspekt des permanenten Kurzhaltens, des regelmäßigen Infragestellens, das bei diesen Spielern eine Agilität, ein Ideenreichtum, ein Über-den-Tellerrand-Schauen, ein Nach-Neuem-Suchen ausbildet und trainiert. Dieses ginge sicherlich verloren, wenn man ihnen das Leben zu einfach macht. Wird Subkultur kommunal, schafft sie sich per Definition ab. Werden Nachbarschaftshäuser zu kommunalen Kindergärten und Jugendzentren, gilt das gleiche. Denn wie innovativ öffentliche soziale und kulturelle Institutionen sind, lesen wir ja täglich, wenn beispielsweise in einem Problembezirk Quartiersmanagerinnen und -manager benötigt werden. Dann rückt selten das Sozialamt an, sondern innovative freie oder kirchliche Träger.
Man mag gar nicht daran denken, wie es in Deutschland im sozialkulturellen Umfeld aussehen würde, wenn man diesen „Zwangs-Innovatoren“ nur ein wenig Ballast abnehme und ihnen ein paar weniger Steine in den Weg lege. Sie könnten Menschen sichere und langfristige Arbeitsplätze bieten, Ressourcen in Inhalte statt in Bürokratie und Selbstrechtfertigungen stecken, und sie wären trotzdem beim nächsten Ruf zur Stelle.
Nutzen wir diese Chance – nicht erst beim nächsten Notfall!