Neue Verkehrskonzepte zwischen Machbarkeit und Kühnheit
Bahnreisen verschaffen nicht nur erfreuliche Aus-blicke. Bahnhöfe und Anlagen befinden sich vielfach in erbarmungswürdigem Zustand. Von Graffity überzogene Flächen tun ihr Übriges, um das Auge des Betrachters zu beleidigen. Verwahrlosung, Leerstände und Rückbau sind die Ergebnisse einer verfehlten Verkehrspolitik, die in erster Linie auf möglichst hohe Renditen setzte. Jahrzehntelanger Verzicht auf notwendige oder gar zukunftsgerichtete Investitionen unterblieben. Funktionsmängel wie chronische Unpünktlichkeit oder Zugausfälle und Kapazitätsdefizite wurden besonders offenkundig, als mehr als
50 Millionen Fahrgäste hinzukamen, weil sie die Bahn für neun Euro im Monat nutzen konnten. So ist es nur allzu verständlich, wenn Zweifel an der Zukunftsfähigkeit eines Verkehrssystems mit einer zweihundertjährigen Vorgeschichte weit verbreitet sind.
Nun soll alles besser werden. Politisch ist die gute alte Schiene wieder voll im Blick. Weil es kaum noch voran ging, wird allerorten gebaut. Da müsste noch viel mehr passieren, was der Mangel an Planungskapazitäten und jeglichen anderen Ressourcen jedoch verhindert. Immerhin wurde weiteren Streckenstilllegungen Einhalt geboten. Bereits nicht mehr genutzte Verbindungen sollen reaktiviert werden, sofern dies nicht schon vorher durch Abbau oder Entwidmung der Bahninfrastruktur verhindert wurde. Wo spätestens in den 1980er-Jahren der Bahnpersonenverkehr eingestellt wurde, soll er nun unter Einbeziehung anderer Verkehrsträger sowie der individuellen Elektromobilität wieder eingeführt werden. Güter sollen zurück von der Straße auf die Schiene, weil der Straßengüterverkehr durch Fahrermangel, steigender CO2-Bepreisung, explodierender Kraftstoffpreise und weiterer Kostentreiber an seine Grenzen gestoßen ist. Schließlich soll die Bahn durch den Transport von Gas auch noch die Energieversorgung retten helfen, um mindestens teilweise den Ausfall des günstigen Pipelinegases aus Russland zu kompensieren. – Die Lücke zwischen politischen Anforderungen und dem tatsächlichen Zustand des deutschen Bahnwesens klafft weit auseinander.
Doch es tut sich was, vor allem in OWL und damit auch im Kreis Gütersloh. Das Spektrum dessen, was sich auf dem Gleis entwickelt, ist vielfältig. Es reicht von der Mobilitätsstation Borgholzhausen über die Wiederaufnahme des Schienenpersonennahverkehrs und der vollständigen Wiederbefahrbarkeit der Teutoburger Wald-Eisenbahn bis hin zu interessanten Forschungsprojekten, die im Rahmen des Strukturentwicklungsprogramms UrbanLand OWL mit der Regionale 2022 entstanden sind. Von bereits realisiert bis hin zur kühnen Vision gibt es innovative Mobilitätskonzepte, die hier beispielhaft vorgestellt werden sollen.
Letzte Meile E-Auto am „Haller Willem“
Die Andeutung einer Drehscheibe vor einem Ringlokschuppen ist gewollt: Als Reminiszenz an traditionelle Bahneinrichtungen ist am Bahnhof in Borgholzhausen eine kreisförmige Anlage entstanden, auf der vor allem Elektroautos auf Bahnreisende warten, um mit ihnen die letzten Kilometer hin zu ihrem ländlichen Reiseziel zurückzulegen. Gleichsam archäologisch konnte ein alter Prellbock geborgen und wieder aufgestellt werden, auf einem Brunnen entstand eine stilisierte Dampflok mit einer Hörstation für Kinder. Infos zur Geschichte des „Haller Willem“, der Bahnstrecke von Brackwede nach Osnabrück, sowie zwei großformatige, aufwendig kolorierte historische Fotos vom Bahnhof und seinem Umfeld führen die Reisenden zunächst in eine Vergangenheit, in der die Bahn verkehrstechnisch noch alles dominierte. Infos für Wanderer sowie Ladestationen und Fahrradboxen für E-Bikes ergänzen das Angebot. Kern der Mobilitätsstation sind Elektroautos, die gleich im ÖPNV-Ticket enthalten und damit buchbar sind, um auf vorbestimmten Routen die Weiterfahrt vom Bahnhof aus ohne Wartezeit realisieren zu können. Weicht die Fahrt davon ab, oder wird ein anderes Ziel angesteuert, wird der Ticketpreis mit einem „attraktiven Car-Sharing-Tarif“ verrechnet. Das Konzept der Anbindung des bestehenden ÖPNV mit Elektrofahrzeugen ist bislang einzigartig in Deutschland. Umgesetzt wird dieser Service in Kooperation mit einem Anbieter von e-Carsharing aus Bayern. Noch scheint es bei der Akzeptanz dieses Angebots „Luft nach oben“ zu geben, was beim großen Verbreitungsgrad der individuellen Mobilität in ländlichen Regionen aber auch nicht überrascht. Sicher ist, dass sich künftig weitere ländliche Bahnhaltepunkte zu ähnlichen Mobilitätsstationen weiterentwickeln werden.
Neuer Verkehr auf alten Gleisen: die Zukunft der TWE
Viele Bahnstrecken haben in den vergangenen Jahren ein Schattendasein geführt, ohne dabei wirklich verschwunden zu sein. Dazu zählt auch die circa 100 Kilometer lange Verbindung zwischen Hövelhof im Kreis Paderborn und Lengerich beziehungsweise Ibbenbüren im Kreis Steinfurt. Zwei Bahnbetreiber teilen sich die Strecke: bis Versmold die Firma Captrain, eine Tochtergesellschaft der französischen SNCF, und von dort an die Lappwaldbahn, ein privates Eisenbahnverkehrsunternehmen mit Sitz in Weferlingen in Sachsen-Anhalt. Auf der sogenannten Mobilitätsachse Verl – Gütersloh – Harsewinkel wird ab 2025 wieder Personenverkehr angeboten, der seit Ende der 1960er-Jahre nach und nach ausgelaufen war und zwischen Hövelhof und Gütersloh 1978 endgültig eingestellt wurde. Komfortabler und schneller soll es gehen als bisher mit dem Bus, dafür wird der Streckenabschnitt umfassend modernisiert und in Gütersloh erstmals eine Anbindung an das Netz der DB hergestellt, was sich technisch jedoch als überaus kompliziert erweist. Damit wird die kuriose Situation zweier benachbarter Bahnhöfe ohne Verbindung zueinander aufgehoben, die seit dem Bau der TWE im Jahr 1901 bestand. Bedarfsanalysen zur Verlängerung des Personenverkehrs nach Hövelhof im Süden und Versmold im Norden sind positiv ausgefallen, sodass in einem weiteren Schritt auch die Bahnfahrt von Gütersloh nach Paderborn ohne Umsteigen wieder möglich werden könnte. Erstmals kommen batterieelektrische Züge zum Einsatz, die mit ihren Akkus auch auf nicht-elektrifizierten Strecken emissionsfrei fahren können. Davon hat der Nahverkehr Westfalen-Lippe (NWL) für 2025 zehn Einheiten vom Typ „Civity BEMU“ eines spanischen Herstellers für die reaktivierten Strecken Münster – Sendenhorst und Verl – Harsewinkel bestellt.
Nach einer umfassenden Sanierung durch die Lappwaldbahn auf dem Nordabschnitt, die einem Neubau gleichkommt, wird im nächsten Jahr die Gesamtstrecke wieder durchgehend befahrbar sein. Dies eröffnet Möglichkeiten, die seit 2010 aufgrund von Streckensperrungen infolge unterbliebener Reparaturarbeiten nicht mehr bestanden: Einerseits können die beliebten Museumsbahnfahrten wieder durchgeführt werden, vor allem die des Teuto-Express vom Verein Eisenbahn-Tradition in Lengerich. Zum anderen ist der Weg für den Güterverkehr Richtung Norden wieder offen und damit die Verbindung zu den Seehäfen ohne Umwege möglich. Mehr und mehr setzen Logistiker auf kombinierte Verkehre, deren längste
Distanzen per Bahn oder Binnenschiff absolviert werden sollen, um die Transportwege auf der Straße zu minimieren. Dabei kommt unter anderem auch der neue Container-Terminal in Osnabrück in den Blick. Nach den schlechten Erfahrungen im Güterverkehr mit dem Staatsmonopolisten DB müssen sich die neuen Anbieter nach und nach das Vertrauen der Wirtschaft in die Bahn zurückerobern.
Zwischen Future Rail und MonoCab: Visionen künftiger Mobilität
Mittlerweile entwickelt sich Ostwestfalen-Lippe zu einem Forschungsschwerpunkt zukünftiger Mobilität, vor allem schienengebundener. MOVE-IN-OWL, ein Forschungsverbund der Universität Bielefeld, der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe und dem Fraunhofer Institutsteil für industrielle Automation in Lemgo sowie der Fachhochschule Bielefeld untersucht Potenziale des autonomen Straßen- und Schienenverkehrs für innovative Mobilitätsangebote in Ostwestfalen-Lippe. Die Verbundpartner haben im Rahmen des Regionalentwicklungsprogramms Regionale 2022 vier Projektideen (AUTÖPIA, Last Mile, AutoBAHN und FutureRail-OWL) zur Verwirklichung der Vision des ÖPNV der Zukunft eingereicht.
Ein Steinchen, das hohe Wellen schlug: So könnte man die Ankündigung beschreiben, mit der Verls Bürgermeister Michael Esken 2018 die Öffentlichkeit überraschte. In Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Bielefeld sollte auf dem 12,6 Kilometer langen Abschnitt der TWE zwischen Hövelhof und Verl ein Reallabor für autonomes Fahren auf Schienen entstehen: „FutureRail-OWL“, damit sind kleine Einheiten von Zwei-Wege-Fahrzeugen für Straße und Schiene bezeichnet, die nach einem flexiblen Fahrplan verkehren oder gleichsam „on demand“ wie ein Bestelltaxi abrufbar sind und dann die Fahrgäste autonom ans gewünschte Ziel befördern. Recht weit in der Entwicklung solcher Dual Mode Vehicles (DMV) ist Japan. Technische und rechtliche Hürden führten 2021 zur Modifizierung dieser Vision, indem die Zielvorgabe einer automatisierten Bahnfahrt vom Personen- auf den Güterverkehr umgelenkt wurde. In Abwandlung der ursprünglichen Projektidee soll es nun darum gehen, in einem Shuttle-Verkehr Güter der Firma Heroal, einem führenden Anbieter von Aluminiumprofilsystemen, zwischen seinen Standorten Hövelhof und Verl hin und her zu transportieren. Sechs LKW-Fahrten pro Tag könnten damit zumindest teilweise ersetzt werden, so heißt es.
Eingleisige Strecken setzen solchen Ideen schnell pragmatische Grenzen. Ob autonom oder konventionell, immer nur in eine Richtung fahren zu können, ist generell ein limitierender Faktor. Begegnungsverkehr auf einem Gleis zu realisieren wäre die Lösung. Dafür wird an sogenannten MonoCabs geforscht: kleine Einschienen-Fahrzeuge, die durch ein Kreiselsystem stabilisiert werden. Die Idee dieser Technologie ist keineswegs neu, bereits 1903 gab es ein Experiment mit einem kreiselstabilisierten Einschienen-Fahrzeug, 1913 mit einem Auto. Die von der Landeseisenbahn Lippe aufgegriffene Idee wurde 2018 mit dem Deutschen Mobilitätspreis ausgezeichnet. Dazu heißt es in der Vorstudie „Vernetzte Mobilität OWL“: „MonoCabs bieten zwar nur wenigen Personen Platz, haben aber gerade für weniger stark besiedelte, ländlich strukturierte Räume das Potenzial, vorhandene Bahnstrecken als neue, bidirektionale Mobilitätsadern zu reaktivieren.“
Schließlich entsteht mit dem RailCampus OWL am Standort der DB Systemtechnik in Minden durch den Zusammenschluss von Hochschulen, Bahn und Wirtschaft ein Innovationsnetzwerk für die Bahntechnologie der Zukunft. Mit dem Studiengang „Digitale Bahnsysteme“ soll der Nachwuchs ausgebildet werden für die schienengebundene Mobilität der Zukunft. – Im Jahr des 175-jährigen Bestehens der Köln-Mindener Eisenbahn sind das keine schlechten Aussichten für das alte Eisen.