Um zu sehen, was auf der Bühne des Gütersloher Theaters passiert, reicht es häufig, ein Ticket zu erwerben und sich auf das sorgfältig zusammengestellte Programm einzulassen. Doch wie kommt ein Stück auf die Bühne? Was passiert, wenn der Vorhang fällt? Und wie ist es eigentlich, selbst in eine Rolle zu schlüpfen? 

Text: Vera Corsmeyer . Fotos: Detlef Güthenke

Um das herauszufinden, können Kinder und Jugendliche in Gütersloh „Theaterspionage“ betreiben – angeleitet von Theaterpädagogin Anna Lena Friedrichs und einem Team aus qualifizierten Pädagog*innen mit unterschiedlichsten Schwerpunkten, finden sich Angebote für alle Altersklassen und Interessen. Beginnend mit dem Theater-Picknick, bei dem Kinder ab sechs mit ihren Eltern und Großeltern spielerisch ausprobieren können, was es heißt, Theater zu machen. Es wird improvisiert, kostümiert und inszeniert. Häufig überträgt sich die Spielfreude der Kleinen dabei auch auf die Erwachsenen. 

Training der Sozialkompetenzen
„Einen Tag im Theater“ können Schulklassen verbringen, hier geht es darum, Theater erlebbar zu machen. Durch Einblicke hinter die Kulissen und viel entscheidender, eigene schauspielerische Versuche. Ein Angebot, das stark frequentiert und für immer mehr Schulen fester Bestandteil des Schuljahres ist.  So lautet die Antwort auf die Frage, wer schon im Theater gewesen sei, zwar immer häufiger ja – das Gütersloher Theater ist fest in der Stadtgesellschaft verankert. Steigen darf die Quote dennoch.
In den Workshops entdecken die Kinder neue Seiten an sich und aneinander, Rollen innerhalb des Klassenverbandes werden aufgebrochen. Viele kommen aus sich heraus, arbeiten konzentriert und überraschen so auch ihre Lehrkräfte. Es gehe darum, sich auszuprobieren und gleichzeitig auch das Verhalten im Theater zu erlernen – wann wird geklatscht? Wieso ist Zuhören so wichtig? Neben der Bühnenerfahrung ist ein Training der Sozialkompetenzen immer inklusive. 
Regelmäßig kooperiert das Theater auch mit dem Reinhard-Mohn-Berufskolleg, um in Workshops das Teambuilding zu fördern. Im Rahmen des „Deutschsommers“, einem vom Kreissportbund durchgeführten Projekts, das in den Sommerferien die Deutschkenntnisse von Kindern und Jugendlichen fördert, gehört eine Theaterführung fest zum Programm. Durch Angebote wie diese werden auch Menschen erreicht, die den Weg ins Theater sonst nicht finden würden.
Das Angebot „Runder Tisch für Theaterlehrkräfte“ möchte die theaterinteressierten Lehrkräfte in ihrem Engagement unterstützen, das für einen Theaterbesuch und das Durchführen eigener Theaterprojekte aufgebracht werden muss. Die Lehrpläne bieten dafür selten den entsprechenden Raum. Es sei eine Herausforderung für Schulen, Lehrkräfte und Klassen für den Theaterbesuch freizustellen. 

Ganz ohne Leistungsdruck
Für Anna Lena Friedrichs ist das nachvollziehbar, bedarf aber dennoch der Veränderung. Nachvollziehbar, weil sie das System Schule kennt. Während ihres Lehramtsstudiums macht die jetzt 29-Jährige parallel eine Ausbildung zur Theaterpädagogin und arbeitet als Schauspielerin im Projekt „Mein Körper gehört mir“. Hier werden Grundschulkinder seit mehr als 20 Jahren für sexualisierte Gewalt sensibilisiert und in ihren Gefühlen gestärkt. 
Friedrichs entscheidet sich für die Theaterpädagogik und gegen das System Schule. Sie wolle „auf dem aufbauen, was schon in den Kindern steckt“ und gemeinsam mit ihnen die individuellen Stärken finden und die Selbstwirksamkeit fördern. So mit den Kindern und Jugendlichen umgehen zu dürfen, sei ein Privileg. Im Theater kann, allein durch die kleineren Gruppen, freier und persönlicher gearbeitet werden. So entsteht ein Ort, an dem jeder Einzelne gesehen wird und wichtig ist – ganz ohne Leistungsdruck.

Wie erfolgreich ihr und das Engagement des gesamten Teams ist, zeigt sich besonders in den beiden Spielclubs. Unter der Leitung von Sascha Kubiak können Kinder ab acht selbst ein Stück entwickeln und auf die Bühne bringen. Zuletzt wurde dabei die „Demokratie erfunden“. Aus sich heraus sind die Kinder zu dem Ergebnis gekommen, dass ein gemeinsamer Rat sinnvollere Entscheidungen trifft, als eine Alleinherrscherin. 
Im Spielclub der Jugendlichen kann entweder ein eigener Stoff entwickelt oder gemeinsam ein Stück ausgewählt werden. Beides immer im direkten Bezug zur Lebenswelt der Teilnehmenden. Dabei will Anna Lena Friedrichs auch erreichen, dass Theater ein Ort ist, an dem die jungen Menschen sich entfalten können und sich bestärkt fühlen – ein Safe Space. Mit Erfolg, sind doch viele dem Spielclub auch über die Schulzeit hinaus treu. Gern würde das Theater weitere Gruppen aufbauen, dies scheitert derzeit noch an Raumnot. 
Um diese Begeisterung zu erreichen, orientiert sich Friedrichs an den Bedürfnissen der Teilnehmenden. Kommuniziert wird auch über Instagram, gleichzeitig werden hier die Probenfortschritte für Außenstehende sichtbar. Auf dem Weg zur Aufführung, passiert nämlich einiges:  Während der Proben wächst der Zusammenhalt innerhalb der Gruppe über Altersspannen und Hintergründe hinweg. Die sonstigen Interessen sind egal – das Projekt verbindet. Auf „fast magische Weise“, so Friedrichs, wird Verständnis und Toleranz gelernt.
Einerseits gehe es um Flexibilität, andererseits aber auch darum, Verantwortungsbewusstsein zu erlernen. Man muss sich auf die anderen verlassen können. Während in Schulklassen häufig eine Scham überwiegt, gelingt es im Theater, diese zu überwinden. So trauen sich viele doch kreativ zu spinnen und ihren Spieltrieb (wieder) auszuleben. Die Teilnehmenden lernen miteinander voneinander.
Gehört Theater also fest auf den Stundenplan? Aktuell finden sich auf den Lehrplänen zumeist klassische Dramen, selten mit Gegenwartsbezug. Abhilfe können hier teilweise moderne Inszenierungen schaffen, die den Stoff den Lebenswelten der Jugendlichen näher bringen. Karin Sporer, stellvertretende künstlerische Leitung des Theaters, verweist auf die Produktion „Werther in Love“, die Goethes Stück modern interpretiert und in den vergangenen Jahren mehrmals im Theater Gütersloh gezeigt wurde. So wird die Fantasie der jungen Zuschauenden zugleich gefordert und gefördert. Während im Film Bilder bis in das kleinste Detail vorgegeben werden, funktioniert Theater mittels Vorstellungskraft.
Theater dürfe nicht nur als Mittel zur Überbringung von Inhalten betrachtet werden, das ästhetische Erleben von Darstellender Kunst ist ein Bildungsziel an sich.

„Theater ist cool“
Sporer und Friedrichs wünschen sich auch eine strukturelle Verankerung von Theaterbesuchen im Schulleben, wie es in Frankreich üblich ist. Im Übrigen erhalten unter 27-Jährige eine fünfzigprozentige Ermäßigung auf die Eintrittskarten, Gruppenkarten für Schulklassen kosten 5 Euro pro Person. So ist Theater nicht teurer beziehungsweise preiswerter als ein Kinobesuch. 
Greta König, die zurzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr im Theater absolviert, fasst präzise zusammen, das „Theater als Ort“ im Bewusstsein zu verankern, sei wichtig. 
Was das Theater Gütersloh auszeichnet, ist unter anderem das kleine Team. Alle arbeiten verzahnt miteinander, durch den direkten Austausch entstehen Möglichkeiten, die laut Anna Lena Friedrichs nicht selbstverständlich sind. 
Das gilt auch für die Spielclub-Mitglieder, in der aktuellen Eigenproduktion „Weberei oder Die Erfindung des Bademantels“ haben einige von ihnen eigene Rollen. 
„Theater ist cool.“ – Davon ist Anna Lena Friedrichs überzeugt. „Die Jugendlichen müssen es nur erfahren.” Häufig fehlen die Berührungspunkte, diese können über Schulen oder noch besser über Gleichaltrige entstehen. Wenn jemand aus dem eigenen Freundeskreis bereits im Spielclub aktiv ist oder regelmäßig ins Theater geht, sinkt die eigene Hemmschwelle. Der Theaterbesuch sollte zu einer Selbstverständlichkeit werden können. 
Voller Begeisterung spricht Friedrichs über all das, was Theater bewirken kann. In der „Werther“-Inszenierung waren die Jugendlichen so gebannt, dass selbst die Lehrkraft überrascht gewesen sei. Oder Kinder, die sich wünschen, dass die Stücke nach dem Schlussapplaus weitergehen. Es entstehe trotz der ständigen Medienüberflutung eine unvergleichliche Magie. 
Mit den Angeboten der Theaterpädagogik entsteht am Gütersloher Theater ein Raum, der Emotionalität zulässt, Selbstwirksamkeit der Teilnehmenden fördert und so auch die Sozialkompetenz im Alltag stärkt. 
Auch für Unternehmen finden sich entsprechende Angebote. Derzeit wird gemeinsam mit der Fritz Husemann GmbH & Co. KG, gefördert vom Förderverein „Theater in Gütersloh e.V.“, ein Azubi-Projekt konzipiert. Im Rahmen dessen erhalten die Auszubildenden neben einer technischen Führung durchs Theater auch einen Bühnenworkshop. Ziel dieses Pilotprojekts ist neben den teambildenden Effekten auch die Heranführung neuer Zielgruppen an das Theater. Eine Fortführung mit anderen interessierten Unternehmen ist in Planung.  
Spioniert wird hier also nur mit den besten Absichten und durch ein engagiertes Team so professionell und erfolgreich wie vermutlich bei den wenigsten Geheimdiensten. Also: Vorhang auf – Bühne frei. 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert