Text: Susanne Zimmermann . Fotos: Besim Mazhiqi, Jan Voth

Das letzte Lied vom „Dachbodenzauber“, der aktuellen Musical-Produktion der „Kulturbrücke Cantara“, ist verklungen. Unzählige Glühwürmchen-Lichter haben die Szenerie in magisches Licht getaucht und die Energie noch ein letztes Mal direkt ins Publikum gebeamt. 400 junge und ältere Zuschauer springen auf. Mitschüler, Freunde, Eltern und Großeltern jubeln, klatschen, trampeln, während auf der Bühne diese Mischung aus Erleichterung und Glücksgefühl geradezu greifbar ist. Und auf allen Gesichter – oben wie unten – sind Stolz und Freude abzulesen. „Cantara“, das Kinder-Musikprojekt der Liz-Mohn-Stiftung hat einmal mehr Brücken gebaut – zwischen Kindern ganz unterschiedlicher Herkunft, zwischen dem, was sie aus ihren Kulturen mitbringen, zwischen Kindern und den Erwachsenen, die sie mit ihren Erfolgen überzeugen und begeistern.

Es ist gar nicht so schwer, daran zu glauben, dass Integration gelingt, wenn man in diese Gesichter blickt. Und es ist keine „Sozialromantik“, wenn man davon ausgeht, dass Musik und kreative Gestaltung im Grundschulalter ein Schlüssel dafür sind. Genau dort setzt die „Kulturbrücke Cantara“ an, im Ursprung eine Art Graswurzelprojekt, das gewachsen ist und seine Potenziale unter dem Dach der Liz-Mohn-Stiftung stetig weiterentwickelt hat.
Dazu braucht es allerdings Menschen, die sich mit diesem Anspruch identifizieren und in der Zielsetzung an einem Strang ziehen. Zum einen ist das in diesem Fall die Stifterin Liz Mohn selbst. Ihre Überzeugung, dass Musik Menschen zusammenbringt und Distanzen überwindet, ist tief in ihrer persönlichen Biographie verankert: „Es ist wichtig, möglichst allen Menschen einen Zugang zur Musik zu ermöglichen,“ sagt Mohn. „Dabei sollten weder das Alter noch die soziale oder kulturelle Herkunft eine Rolle spielen. Musik und Kultur haben die Kraft, Brücken der Verständigung zu bauen.“

In Leila Benazzouz hat sie eine kongeniale Projektleiterin gefunden, die alle Voraussetzungen einer „Brücken-Baumeisterin“ mitbringt: einen internationalen familiären wie sprachlichen Hintergrund, eine (Kirchen-)Musikerinnen-Ausbildung, Erfahrung in wissenschaftlicher Arbeit und – vor allem – Spontaneität, Authentizität und Offenheit für die Bedürfnisse der Altergruppe zwischen acht und etwa zwölf Jahren. Das ist die Altersspanne der Mädchen und Jungen, mit denen „Cantara“ an inzwischen sechs Gütersloher und Bielefelder Schulen zusammenarbeitet – im jährlichen Musical-Projekt ebenso wie mit dem Kinderchor, der sich im Wesentlichen aus Schüler*innen der Grundschulen Blankenhagen und Sundern in Gütersloh zusammensetzt. Ganz neu ist zudem eine offene Jugendgruppe in Bielefeld, die die Idee aus den Schulen weiterträgt.

Am Anfang ein Sprung
ins kalte Wasser
Die doppelte Bedeutung des Namens weist ebenso auf die Anfänge wie auf den Kern des Projekts. „Cantara“ bedeutet auf Arabisch „Brücke“, aber auch die lateinisch-italienische Herkunft – cantare = singen – steckt im Begriff. Der Ursprung der „Kulturbrücke“ liegt im Jahr 2015, als vor allem geflüchtete Menschen aus Syrien Gütersloh erreichten. Auch die Bertelsmann Stiftung beteiligte sich seinerzeit an den Unterstützungsmaßnahmen. Die Idee, Kindern über Musik den Start im fremden Land zu erleichtern, kam von Liz Mohn selbst. „Sie hat mich angesprochen, ob ich nicht ein Musikprojekt mit Kindern auf die Beine stellen könnte,“ erinnert sich Leila Benazzouz. Damals arbeitete die studierte Politikwissenschaftlerin als Projektmanagerin bei der Bertelsmann Stiftung, aber als Leiterin des hauseigenen Chores waren auch ihre musikalischen Kenntnisse bekannt. Außerdem spricht sie Arabisch.
Dennoch war das Brückenbauen für sie ein Sprung ins kalte Wasser. „Frau Mohn hat diese Fähigkeit eher in mir gesehen, als ich selbst,“ sagt Leila Benazzouz. Sie hat sich damals mit dem Schulamtsleiter der Stadt in Verbindung gesetzt. So kam der Kontakt zu den Grundschulen Blankenhagen und Sundern zustande. „Am Anfang haben wir einmal in der Woche miteinander gesungen“, erzählt Benazzouz. Das Ziel: Ankommen, Spaß haben, etwas gemeinsam auf die Beine stellen. Aber auch: die verlassene Heimat durch Lieder und Musik ins Bewusstsein bringen, Erlerntes einsetzen. Das ist auch heute noch für Leila Benazzouz eine wichtige Säule ihrer Arbeit: „Neben all dem, was die Kinder hier lernen müssen, sollen sie wissen, dass sie auch Kenntnisse mitbringen. Das stärkt das Selbstbewusstsein.“
Die Erfolge stellten sich schnell ein – bei Auftritten in den Schulen, bei ersten Präsentationen außerhalb. Mit einem internationalen Repertoire und ihrer Fröhlichkeit eroberten die Kinder schnell die Herzen des Publikums. Das Cantara-Fundament war gebaut. Nach gut drei Jahren wurde das Projekt in die damalige Liz-Mohn-Kultur- und Musikstiftung überführt und dort mit einem bereits bestehenden Kinder-Musical-Projekt verknüpft. Kurz vor dem Corona-Lockdown im März 2020 fand die erste Premiere im Gütersloher Theater statt: „Florian auf der Wolke“ mit einem Text von James Krüss und Musik von Christian Bruhn.

Aus dem Integrations-Projekt ist eine Plattform der Vielfalt geworden

Seither hat sich Cantara erkennbar weiterentwickelt. Aus dem Integrations-Projekt für Kinder geflüchteter Familien ist eine Plattform der Vielfalt und der kreativen Ideen geworden. Sie wird noch immer von der internationalen Sprache der Musik getragen, hat sich aber um die Elemente Schauspiel und Tanz erweitert. Im Zentrum steht dabei die jährliche Musical-Inszenierung, die inzwischen von grundauf von den teilnehmenden Kindern erarbeitet wird – zusammen mit Profis aus der Erwachsenenwelt. Leila Benazzouz hat dazu den Bielefelder Theaterpädagogen Canip Gündogdu, den Choreografen Andreas Wegwerth und das Ensemble Vinorosso mit seinem künstlerischen Leiter Florian Stubenvoll mit ins Boot geholt, alles Partner, die die Grundgedanken dieses Projektes teilen: Die Kinder selbst entwickeln weitgehend die Inhalte des Musicals, ihre Vorschläge und Ideen sind die Substanz für die Geschichte und ihre szenische Umsetzung. Choreograf Andreas Wegwerth bringt es im kurzen Dokufilm zum Projekt so auf den Punkt: „Die Kinder zeigen auf der Bühne, was sie mit ihren Ideen entwickelt haben … Aber sie zeigen auch sich selbst. Alle, die auf die Bühne gehen, wollen gesehen werden.“ Das sei zunächst einmal eine Zumutung für die Kinder. „Aber aus dieser Zumutung entsteht Mut.“ Sprich: ein gutes Stück Selbstgewissheit und Selbstbewusstsein.

Wer die Kinder auf der Bühne agieren sieht, dem erschließt sich schnell, was gemeint ist. Nicht Perfektion ist hier das Ziel, sondern die Aktion, die sich aus der gemeinsamen Arbeit und den gemeinsamen Proben herauskristallisiert. Auch das ist Prinzip: „Wenn der Vorhang aufgeht, sind wir Erwachsenen die Zuschauer,“ beschreibt Leila Benazzouz den Anteil, den die jungen Akteure und Akteurinnen an ihrem eigenen Auftritt haben. Dennoch erwirken die professionelle Anleitung und das Umfeld des Theaters ein beeindruckendes Gesamtergebnis. Da werden aus schüchternen Zeitgenossen mitreißende Figuren, die souverän die Bühne füllen. Da singen sich zarte Personen laut und vernehmbar frei, ohne Angst vor falschen Tönen.
Das, was auf diese Weise mit Teilnehmenden aus inzwischen drei Gütersloher Grundschulen und einer Realschule entsteht, geht in Aufwand und Intensität über das hinaus, was im Schulalltag geleistet werden kann – zumal auch die Nachhaltigkeit ein Grundprinzip des Projektes ist. Für Schüler und Schülerinnen von Klasse zwei bis vier ist es konzipiert. Wer nach dem ersten Jahr weiter mitmachen will, ist dazu herzlich eingeladen.
Die Verbindung zu den Schulen wird über einen Lehrer oder eine Lehrerin gesichert. Besonderen Wert legt die Projektleiterin auch auf den Kontakt mit den Eltern. Für Leila Benazzouz ist entscheidend, immer persönlich ansprechbar zu sein. Deshalb gibt sie ausdrücklich ihre Telefonnummer weiter und regelt über WhatsApp-Gruppen die vielen Fragen, die an einem solchen Projekt hängen. „Für viele Eltern ist das Neuland und auch organisatorisch mit einem gewissen Aufwand verbunden. Die allermeisten Eltern unterstützen die Arbeit aber komplett.“

Nachahmung erwünscht – Erfahrungsbericht erscheint 2025 
Inzwischen ist Benazzouz aber kein One-Woman-Team mehr in der Stiftung. Unterstützt wird sie von Annika Frank, die im Wesentlichen für das Backoffice zuständig ist, alle Abstimmungen mit den Schulen und dem Theater, den Terminplan und die Organisation im Vorfeld der Aufführungen regelt. Auch für die Öffentlichkeit der Kulturbrücke, inklusive Social Media, ist sie verantwortlich. Für Leila Benazzouz bedeutet das wiederum mehr Freiheit in einem Projekt, das inzwischen aus den Kinderschuhen herausgewachsen ist, auch wenn der internationale Chor mit rund 40 Kindern ein weiteres Cantara-Kernelement bleibt. Gesungen wird in zig Sprachen. Arabisch, Italienisch, Spanisch, Türkisch, Isländisch sind Beispiele aus einem kunterbunten Repertoire, das mit Leidenschaft lauthals vorgetragen wird – alles auswendig und in Bewegung, denn das ist Lernprinzip. „Ich möchte einfach, dass die Kinder singen und Spaß daran haben,“ ist hier der pädagogische Ansatz der Chorleiterin.
Ihre nunmehr fast zehnjährigen Erfahrungen in der praktischen Arbeit mit Musik als integrativem Element wird Leila Benazzouz voraussichtlich Ende kommenden Jahres in einer Publikation zum Projekt veröffentlichen – als Handreichung für Bildungsträger, die in ähnlicher Weise arbeiten wollen. „Mit einer Art Schneeballsystem in die Breite gehen“, hat sie als Ziel im Blick. Aber auch innerhalb der Liz-Mohn-Stiftung werden bereits Querverbindungen aufgebaut – zum hochklassigen Wettbewerb „Neue Stimmen“ zum Beispiel, der junge Operntalente weltweit sondiert, coacht und auszeichnet. Im vergangenen Jahr sind Opernsänger*innen aus der Meisterklasse in die Grundschulen gegangen, um gemeinsam zu singen, und der Cantara-Chor hat vor großem Publikum den Opener beim Abschlusskonzert gemacht. In diesem Jahr wiederum hat zum ersten Mal eine Jury aus Jugendlichen ihren Favoriten aus dem Teilnehmerfeld der Neuen Stimmen gekürt, den 26-jährigen Bass Alejandro Baliñas Vieites, der auch im Finale zu den Preisträgern gehörte. Auch ihm hat die Musik Brücken gebaut. Cantara hat also noch einiges vor sich. Valentina aus der Ukraine beschreibt das im Dokufilm über Cantara so: „Cantara ist wie eine neugeborene Blüte, die den Kopf immer weiter nach oben streckt.“

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