Flötotto und die Zukunft des Lernens
Text: Vera Corsmeyer . Fotos: Detlef Güthenke
„Die Schulbank drücken“ – lange Zeit ist das nicht nur ein geflügeltes Wort für den Schulbesuch, sondern gelebte Sitzrealität. Bis das Gütersloher Unternehmen Flötotto kurz nach dem Zweiten Weltkrieg einen leichten, flexiblen Stuhl für eine Friedrichsdorfer Schule entwickelt. Aus verdichtetem Buchensperrholz, das mit Phenolharz getränkt wird, entsteht so Anfang der 1950er-Jahre der Pagholz-Formsitz. Bereits damals ist das 1907 gegründete Familien-unternehmen seiner Zeit voraus – ein Motiv, das sich durch die Unternehmensgeschichte ziehen wird. 1952 wird der sogenannte Formsitz patentiert und für zahlreiche Generationen zum konstanten Begleiter der Schullaufbahn.
Lernen als Ganzes
Doch ist Flötotto heute überhaupt noch ein Schulmöbelhersteller? Nicht ausschließlich. Spricht man mit Geschäftsführer Frederik Flötotto, wird schnell deutlich, dass es um das Lernen als Ganzes geht. Für ihn gibt es „nichts wichtigeres als Bildung“, man gestalte die Zukunft des Lernens mit. In Schulen werden die Kinder und Jugendlichen auf das Leben vorbereitet und bestenfalls der Grundstein für lebenslanges Lernen gelegt. Es gehe darum, zu erreichen, dass Schulen „Erfolge ermöglichen, statt das Scheitern zu dokumentieren“.
Viele Schulen befinden sich schon im Prozess des Aufbruchs, es gibt zahlreiche hochmotivierte, engagierte Schulleiter und Lehrkräfte. Doch die räumlichen Bedingungen entsprechen selten den Bedürfnissen und den unterschiedlichen pädagogischen Konzepten. „Schulbau werde derzeit falschrum gedacht“, so Flötotto. Es werde von außen nach innen geplant und nicht von innen nach außen. Idealerweise passt sich die Innenraumplanung den benötigten Gegebenheiten und individuellen Lernsettings anpassen. Mit der unternehmenseigenen Initiative „Future Learning“ entwickelt Flötotto ganzheitliche Bildungskonzepte unter Einbezug aller Akteure.
Das Ziel des Unternehmens ist es, Lernumgebungen zu schaffen, die flexibel auf die Entwicklungen im Bildungswesen und die Bedürfnisse und Anforderungen der Nutzenden angepasst werden können. So können beispielsweise Einzeltische unkompliziert zu Workstations für vier werden, ohne dabei auf Ästhetik, Qualität oder Langlebigkeit zu verzichten.
Miteinander voneinander lernen
Derzeit wird der deutsche Schulmöbelmarkt von zwei großen Anbietern dominiert. Doch Flötotto kann nicht nur auf eine langjährige Erfahrung zurückblicken, auch die Bekanntheit und das Qualitätsversprechen sind klare USPs. Zu Beginn habe man sich noch nicht vorstellen können, welches Vakuum man mit dem eigenen Angebot füllen würde, berichtet Flötotto.
Das Unternehmen plant, konstruiert, fertigt, liefert und montiert, dies stets in enger Abstimmung mit den Schulen. Gedacht wird aus Nutzerperspektive, das Team berät und begleitet die Projekte auf partnerschaftlicher Ebene. Man wolle „miteinander voneinander lernen“, so Flötotto. Die Begegnungsräume dafür bieten die eigenen „Experience Center“. An fünf Standorten weltweit können hier Konzepte entwickelt, Problemstellungen bearbeitet und „Grundlagenforschung“ betrieben werden: Wohin mit den iPads, wenn diese nicht im Gebrauch sind? – Solche vermeintlich einfachen Fragen werden bisher in den Planungen nicht bedacht, kommen im direkten Austausch aber schnell auf. Dass sich Flötottos Ansatz, Lernumgebungen multiperspektivisch zu denken, auszahlt und in den vergangenen fünf Jahren Vertrauen gewachsen ist, zeigt sich auch darin, dass inzwischen häufig Schulen und Schulträger selbst auf das Unternehmen zukommen.
Nicht nur die Lernräume werden aus 360-Grad-Perspektive gedacht. Auch die „Flötotto DNA“ in Form und Flexibilität des Schulstuhls wird weitergedacht: Gemeinsam mit dem international anerkannten Designer Konstantin Grcic präsentiert Flötotto 2012 das Stuhlkonzept PRO. Im Entstehungsprozess ist dabei „nichts aus Versehen passiert“, man kooperiert mit der Deutschen Sporthochschule in Köln, achtet auf die Recyclingfähigkeit des Materials.
Es geht darum, auch beim Sitzen in Bewegung zu bleiben. Alle Sitzpositionen sind ergonomisch durchdacht und Bewegungen auf dem Stuhl erwünscht. Ein entsprechendes „Trainings“-Plakat für den Klassenraum gibt es gleich dazu. Denn aktives Sitzen
fördert die Konzentrationsfähigkeit nachweislich.
Allen Werkzeugen, wie Flötotto seine Produkte lieber nennt, ist ihr Mehrwert gemein. Mehrwert im doppelten Sinne: Sie können modular kombiniert und an die Anforderungen der Nutzenden angepasst werden. Der auf den ersten Blick einfache zweifarbige Holzzylinder ermöglicht zum Beispiel als Kommunikationsampel nonverbale Interaktion.
Ins Homeoffice wollen die wenigsten
Gefertigt wird seit mehr als vier Jahren in Tschechien, wo zuvor bereits die Flötotto-Wohnmöbel produziert wurden und nun das lose Mobiliar sowie der komplette Innenausbau für die Schulmöbelsparte entsteht. Frederik Flötotto betont die hohe Motivation der dort insgesamt gut 180 Mitarbeitenden. Vor Ort gibt es zwei Werke, eins für die Fertigung des losen Mobiliars und das zweite als Joint-Venture-Partnerschaft für den individuellen Innenausbau. Geleitet wird die Produktion von einer Frau, in Tschechien noch eine Ausnahme.
Die Pagholz-Sitzschale ist inzwischen von einer voll recyclebaren Kunststoffschale ersetzt worden, um die nachhaltige Unternehmensausrichtung weiter voranzutreiben. So ist derzeit auch ein Rücknahmesystem der äußerst langlebigen Sitzschalen in Planung. Seit 2022 ist das Unternehmen nach der internationalen Umweltmanagementnorm ISO 14001 zertifiziert und erhält im Sommer 2023 auch die CrefoZert-Auszeichnung.
Mit dem Wachstum der vergangenen Jahre hat Frederik Flötotto so nicht gerechnet, inzwischen beschäftigt das Unternehmen neben der Fertigung gut 35 Mitarbeitende im Bereich Entwicklung und Vertrieb. Ins Homeoffice wollen dabei die wenigsten. Er wolle Menschen um sich haben, die die Dinge besser können als er selbst und man so miteinander voneinander lernen könne. Man hospitiert in den abgeschlossenen Projekten, um die reale Nutzung der Konzepte zu erleben und gegebenenfalls anzupassen oder sogar zu verwerfen.
Aus dem Schulmöbelhersteller ist ein ganzheitlicher, international agierender Lernräumegestalter geworden, der nicht nur aktives Sitzen, sondern vielmehr die Zukunft des Lernens aktiv gestaltet.