Dirk Tabor und Günter Queisser aus Versmold prägten die kulturelle Saure-Gurken-Zeit musikalisch und gingen dabei ganz neue Wege

Text: Dr. Rolf Westheider | Fotos: Detlef Güthenke

Auch akustisch entwickelte die Corona-Zeit eigene Signaturen. Seit April 2020 erschall öffentlicher Applaus von den Balkonen. Er galt den neuen „Alltagshelden“, vor allem dem medizinischen und pflegenden Personal in den Krankenhäusern, deren Kräfte in einem nie dagewesenen Maße strapaziert wurden – um jedoch rasch wieder zu verhallen. Eine weitere Stufe der hörbaren Phänomene des Ausnahmezustands wurde in Italien gezündet: Balkonkonzerte! Musik und Gesang gleichsam von Haus zu Haus, eine Beschallung der Nachbarschaft in Zeiten des Lockdowns, Muntermacher für die erzwungene Internierung in der eigenen Wohnung sozusagen. Ein Zeichen des Zusammenhalts, um die Isolation zu überwinden, der Erfahrung folgend: „Mit Musik geht alles besser!“

Auswahl erfolgte mit Bedacht

Diese Idee verfing auch in Versmold, beim „local hero“ für Musik und Gesang Günter Queisser und beim erfahrenen DJ, Veranstaltungsmanager und Tontechniker Dirk Tabor. Beiden war ihr Terminkalender zu einem unbeschriebenen Blatt geworden, nichts ging mehr. Wer für die Musik lebt, kann das nicht akzeptieren, Zeit also für einen Neuanfang. Etwas dazu fehlte, aber wie sagten schon die Römer: „Tres faciunt collegium“. Eine eher zufällige Begegnung in Gesmold, so berichtet Dirk Tabor, bescherte den dritten Mann. Julian Theel, Betreiber von Radio Hunteburg, einem Internetradio aus Osnabrück. Radio wo? Ja, Hunteburg, ein Ortsteil von Bohmte im Wittlager Land, aber das tut eigentlich nichts zur Sache, Julian kommt von dort. Entscheidend für die beiden Versmolder wird nun die digitale Plattform, die er mitbringt und die per Livestream erstmals am Sonntag, 22. März, ein dezentrales Balkonkonzert möglich macht. Dezentral, weil Günter Queisser (Trompete), Versmolds früherer Bürgermeister Thorsten Klute (Kontrabass) und Dirk Tabor (Moderation) auf unterschiedlichen Balkonen stehen! Zur weiteren Verbreitung hatte Dirk Tabor über Facebook aufgerufen, nicht nur befreundete DJ´s, die natürlich über entsprechendes Equipment verfügten. Tabor rückblickend: „Jeder, der Boxen an seinen PC oder an sein Handy anschließen konnte, sollte das am Sonntag gegen 17.45 Uhr tun und das Fenster öffnen. Dann den Player von Radio Hunteburg starten – und los ging’s.“

Nach einer Anmoderation erklang zunächst die Europahymne „Ode an die Freude“ von Beethoven als musikalisches Zeichen der europäischen Solidarität, schließlich hatte das Virus binnen kürzester Zeit schon ganz Europa im Griff. Alle Europäer hätten mit der Angst vor einer Infektion die gleichen Sorgen gehabt, daher verbinde sie auch diese Hymne. „Die Botschaft, dass wir in ganz Europa zusammenstehen mussten, war mir wichtig“, so Tabor. Danach spielte oder sang Günter Queisser Lieder wie „Hallelujah“, „You raise me up“, eine deutsche Fassung von „Down by the river side“, „Wonderful world“ oder „Zeig mir den Platz an der Sonne“ von Udo Jürgens. Dabei sollten alle mitsingen und mitspielen. Die Auswahl erfolgte mit Bedacht: „Es sind ernsthafte Lieder, die auch Mut machen sollten“, so beschreibt Tabor das Repertoire dieser erfolgreichen digitalen Premiere.

Auszeichnung in schweren Zeiten

Beim zweiten Livekonzert am Ostersonntag war unter anderem Pastor Dirk Leiendecker von der evangelischen Kirchengemeinde dabei, denn Präsenzgottesdienste durften ja nicht stattfinden. Wiederum stiegen die Zuhörerzahlen. Die Livekonzerte waren zum Stadtgespräch geworden: eine engagierte Unterhaltung durch heimische Akteure in einer tristen Zeit. Das neue Format wurde weiter perfektioniert, räumlich und technisch. Zunächst bot Versmolds Bürgermeister Michael Meyer-Hermann den Entertainern die ungenutzte städtische Aula an. Flugs wurde sie zur Showbühne umgestaltet. Fortan ersetzten Fernsehkameras die bislang verwendeten vier Webcams, sodass in Full-HD-Qualität ausgestrahlt werden konnte. Die Szene: Eine Party mit Songs aus den 1950er- und 60er-Jahren, dazu eine Wurlitzer-Musicbox, an der Günter Queisser die alten Hits anwählte, die selbstverständlich von Dirk Tabor am Mischpult aktiviert wurden. Es erklangen bekannte Melodien und Lieder, die von Liebe, Sehnsucht, Schmerz und Heimweh erzählten. An einer stilechten Bar mixte Marcel Geppert Cocktails – ein Bühnenbild, das den Inszenierungen einer perfekten Fernsehshow in nichts nachstand. Zunächst wurde das Ganze in Schwarz-Weiß übertragen, schließlich gab`s im Nierentisch-Zeitalter noch kein Farbfernsehen. Das änderte sich zur Halbzeit der Show, als der Bürgermeister die Bühne betrat: Symbolisch betätigte er einen Buzzer und das Publikum daheim konnte den zweiten Teil „in Farbe“ sehen. Michael Meyer-Hermann brachte aber nicht nur Farbe ins Programm, sondern hatte als Überraschung eine Sonderausgabe des Versmolder Bürgerpreises dabei. Für ihr außergewöhnliches Engagement in schweren Zeiten zeichnete er Queisser und Tabor damit feierlich aus.

Das Publikum verlangte nach mehr. Ungeduldig wurde gefragt, wann die Corona-Stars das nächste Mal wieder „on air“ sind. „Für ein Zwei-Stunden-Programm eines Livestream-Konzerts brauchen wir eine Vorlaufzeit von vier bis fünf Wochen“, sagt Queisser. Übers Jahr wurden neue Programme entwickelt. Zu den „Raritäten aus der Musicbox“ kamen „Sommer, Sonne, Strand und coole Songs“ verstärkt durch den Borgholzhausener Saxofonisten Tino Ludwig, „Musik liegt in der Luft“, der „Udo-Sahne-Mix“ und eine ganze Reihe weiterer kreativer Motto-Partys. Mit der Bielefelder Schlagersängerin Sabrina Berger ging es weiter über eine Weihnachtsshow in das laufende Jahr hinein, das musikalisch mit der „Kirmeszeltparty“ – die traditionelle „Sünne-Peider Kirmes“ konnte ja nicht stattfinden – und dem Karnevalsprogramm „Strüßje, Bützje & Kamelle“ intoniert wurde. Bei jedem Konzert schalteten sich weltweit immer mehr Fans zu, mittlerweile sind es über 35.000! „Interessanterweise kommen unsere Shows in Japan besonders gut an“, freut sich Günter Queisser. Elektronische Fanpost kam schon aus Portugal oder Kanada. Wer es live verpasst hat, dem stehen verschiedene Möglichkeiten des Nachhörens und -sehens offen: Bei „vermold-life.de“, der „Mediathek.hubu.fm“ des Digitalsenders Radio Hunteburg, bei „Taboriso Dancing“, der Webseite von Dirk Tabor oder in Günter Queissers Künstler-Rubrik bei Spotify.

Was mit einem Lautsprecher auf dem Balkon begann, zählt längst zu einer festen Größe im grenzenlosen Markt der digitalen Unterhaltungsangebote. Von Versmold in die ganze Welt: Damit sind Dirk Tabor und Günter Queisser zugleich Botschafter ihrer Heimatstadt geworden. Sie haben die Krise als Chance genutzt. Aus der Not eine Tugend zu machen hätte ihnen nicht besser gelingen können.

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