Drei Dorfschullehrer in Peckeloh vom ausgehenden 18. bis ins späte 19. Jahrhundert
Fotos: Stadtarchiv Versmold
Wohl kaum ein gesellschaftlicher Bereich wird so kontrovers diskutiert wie das öffentliche Schulwesen.
Das war schon immer so. Auch bei den Preußen, deren Bildungssystem stets als vorbildlich galt. Vor allem die Zustände auf dem Lande waren kritikwürdig. Dank einer guten Überlieferung durch Schulchroniken und große Aktenbestände zum Personal und zum Unterrichtsalltag wissen wir darüber gut Bescheid. Als Beispiel mag die frühere Gemeinde Peckeloh gelten, heute ein Ortsteil der Stadt Versmold. Zwischen 1763 und 1883 prägten nur drei Figuren das schulische Geschehen. – Es ginge fehl, sie als Pädagogen zu bezeichnen …
Neben der Mehrfachbelastung durch kirchliche Verpflichtungen wie Kantorendienste und der schlechten Bezahlung wirkte sich die mangelnde Ausbildung als größtes Handicap im Lehrerberuf aus. Oft fehlte es schon an elementaren Grundkenntnissen, so dass die Vermittlung der Kulturtechniken nicht gelingen konnte, weil selbst die Lehrer sie nur unzureichend beherrschten. Dies zeigte sich vor allem bei Johann Henrich Schürmann, der 1863 die Peckeloher Schulstelle nach Abschluss der „Lehrzeit“ vom Vater übernommen hatte. Sein Engagement als Lehrer hatte sich immer in Grenzen gehalten und tendierte schließlich gegen Null. Nach mehr als 30-jähriger Tätigkeit wurde es jetzt auch den Peckelohern zu viel, obwohl jene seinerzeit gewiss keine Bildungsfanatiker waren. Da sie die Zustände in der Schule künftig nicht mehr hinnehmen wollten, forderten sie auf einer Dorfversammlung am 12. März 1799 Schürmanns Pensionierung, mindestens aber die Assistenz eines „Adjuncten“ an seiner Seite. Anlässlich mehrerer Schulvisitationen in der Vogtei Versmold wurde auch der Fall Schürmann zur Sprache gebracht. Das Urteil hätte für ihn kaum vernichtender ausfallen können. Auch zeugt es vom Protest an der Art der Stellenbesetzungen, bei der nicht Qualifikation und Berufung den Ausschlag geben, sondern durch die eine Lehrerstelle gewissermaßen als Erbe angetreten wurde:
Der Visitationsbericht endet mit einer überraschenden Antwort auf die Frage:
„Wie verhält sich die Bauerschaft dabey und wie ist sie bey dieser Lage gestimmt? Größtentheils ganz gleichgültig, weil sie ihre Kinder desto ruhiger zu Hause behalten können.“
Je untauglicher sich der Lehrer erwies, desto leichter konnten die Eltern die Schulpflicht ihrer Kinder unterlaufen. Mit dem Argument, dass sie in der Schule ohnehin nichts lernen würden, blieben ihnen die Kinder als Arbeitskräfte auf dem Hof erhalten. Im Bewusstsein seiner eigenen Schwächen versuchte es der Lehrer zumeist gar nicht, die Schulpflicht einzuklagen. Nur fachlich gebildete Lehrer boten daher die Voraussetzung eines regelmäßigen Schulbesuchs.
Nach Schürmanns plötzlichem Tod im August 1800 – er war die Treppe aus seinem Schlafgemach hinuntergestürzt – war die Bauerschaft Peckeloh zu Recht besorgt, dass – einem pastoralen Versprechen gemäß – der Sohn die Stelle erhielte. Zum Glück favorisierte der Superintendent als Schulaufsicht den externen Kandidaten Philip Henrich Graf. Am 12. September 1800 wurde dem bisherigen Schullehrer zu Hesseln bei Halle (Westf.) die Peckeloher Stelle übertragen.
Graf kam nun die undankbare Aufgabe zu, die Ordnung an der Schule wiederherzustellen, weshalb ihm ein Peckeloher bei seinem ersten Besuch des neuen Lehrers riet, „er solle nur ein Fuder Stöcker mitbringen“. Graf gestand, dass ihm dabei recht „schwül ums Herz geworden“ war, gleichwohl lag es für ihn als ehemaligen Unteroffizier nahe, für die Niederschlagung der eingerissenen Anarchie militärische Disziplinierungsmittel einzusetzen. Nachdem er den ersten „Aufrührer nach militärischer Art bedient hatte, war die nötige Disziplin hergestellt“, und weitere „besondere Ausfälle sind seit der Zeit nicht mehr vorgekommen“, wird in der Schulchronik vermerkt.
Nach der Übergangsherrschaft des Rohrstocks zogen wieder halbwegs geordnete Unterrichtsverhältnisse ein, die wesentlich durch die Einführung eines Stundenplans sichergestellt werden konnten, den es zu Schürmanns Zeiten nicht gegeben hatte. Dass Bibel, Gesangbuch und Katechismus im Unterricht die wichtigsten Schulbücher waren, lässt sich nicht nur am Montagslehrplan der zweiklassigen Schule gut beobachten:
Rechnen war im Wochenplan schwach vertreten, denn nur am Dienstag in der dritten Stunde wurden „den Kindern die Zahlen gelernt.“ Am Donnerstag in der ersten Stunde sollte „ein Stück aus dem Kinderfreund gelesen“ und „einige Fragen darüber gemacht“ werden. Nicht immer war es möglich, den Plan einzuhalten, denn vor allem in Notzeiten hatte die Schule praktische Aufgaben zu erfüllen, die über das Katechisieren hinausreichten. In Grafs Amtszeit fiel die Hungersnot von 1817 in Folge der Klimaveränderung durch den Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora zwei Jahre zuvor. Durch die Organisation von Brotlieferungen von Kindern wohlhabenderer Eltern für die armen Hungerleider versuchte Graf die Not zu lindern. Erst 1834 konnte er, 75-jährig, erstmals an Ruhestand denken, weil ihm der Hobbyastronom Johann Heinrich Weber als Hilfslehrer zur Seite gestellt wurde. Philip Graf war schließlich 83 Jahre alt, als 1842 sein Nachfolger Weber so weit eingearbeitet war, dass er sich endgültig zur Ruhe setzen konnte.
Verzeichniß von der Information der Schule zu Peckeloh
den 28ten August 1802
Verzeichniß von der Information der Schule zu Peckeloh den 28ten August 1802
1te Stunde: Anfang mit Gesang und Gebät. 2 Kinder fragen sich ein Hauptstück, die erste Classe sagen das ein mal 1 her, Danach wird über das jenige, was die Kinder auswendig lernen, catechisirt, es wird ein Stück aus dem Noth und Hülfs Buche vorgenommen.
2te Stunde: Nun wird gelesen, so bald aber die erste Classe gelesen, wird geschrieben, darauf werden die Testamente buchstabirt und A.B.C. Kinder vorgenommen, das geschriebene wird coregirt, alsdann werden die Buchstabir und A.B.C. Kinder wieder vorgenommen.
3te Stunde: Die erste und 2te Classe Lesen, es wird ein Hauptstück auswendig hergesagt, auch ein paar Verse aus dem Liede, darüber werden einige Fragen gemacht, danach wird das aufschlagen der Gesänge vorgenommen, alsdann werden Briefe gelesen.
Auch Weber hatte kein leichtes Erbe anzutreten, als er sich 1834 mit einigen Büchern im Gepäck nach Peckeloh begab. Traf er doch, dort angekommen, auf eine fröhliche Beerdigungsgesellschaft, die getreu dem Wiener Motto „es muss a´Freud sein bei der Leich“ schon ganz in der Tradition seines Vor-Vorgängers Schürmann reichlich gezecht hatte und dies vom Novizen Weber nun auch erwartete. Angewidert von dieser Zumutung wandte sich der neue Lehrer von der selbsterklärten Dorfelite ab. Noch lange sollte ihm diese ganz und gar misslungene Vorstellung nachschleichen. Zumal er den antialkoholischen Moralismus gleichsam zu seinem Programm machte, denn eigentlich hätte er Pastor werden wollen. Dies hatte seine seit Kindheit schwache Konstitution verhindert. Andernfalls hätte er als Pietist und Asket jeden Sonntag von der Kanzel aus gegen den Alkoholkonsum anpredigen können. Dass er dies nun als Hilfslehrer durchzusetzen versuchte, machte ihn von Anfang an unbeliebt. Auch wurde ihm nachgesagt, das Züchtigungsrecht zu überschreiten, aber bei 200 Kindern in zwei Klassen war der Lehrer eben mehr Dompteur als Pädagoge. Der Schulvorstand wollte ihn wieder loswerden, Weber hielt jedoch an der Seite seines alten Kollegen Graf neun Jahre durch.
Endlich in Amt und Würden angekommen, galt seine Aufmerksamkeit weniger den Dorfkindern als vielmehr dem gestirnten Himmel. Die Astronomie als sein Hobby entwickelte er zur täglich praktizierten Leidenschaft. Mit einfachsten Mitteln, später mit Unterstützung deutscher Auswanderer nach Amerika, hatte sich der Autodidakt Weber auf dem Schulhaus eine Sternwarte eingerichtet, von der aus er allabendlich und mit größter Präzision und Zuverlässigkeit verschiedene Himmelsphänomene wie Polar- und Tierkreislichter beobachtete und diese empirischen Daten regelmäßig an die namhaftesten wissenschaftlichen Experten in ganz Europa weitergab. Über viele Jahre veröffentlichte Weber seine Beobachtungen in der in Halle an der Saale erschienenen „Wochenschrift für Astronomie, Meteorologie und Geographie“. Sie wurde zwischen 1857 und 1874 herausgegeben von dem Münsteraner Professor und zeitweiligem Rektor der Universität, Eduard Heis, zu dem Weber seine ersten regelmäßigen Kontakte unterhielt. Tagsüber galt seine scharfsichtige Beobachtung der Sonne und der Bedeutung ihrer Flecken. Hierüber stand er in ständigem Austausch mit dem Astronomen Professor Rudolf Wolf in Zürich. Weitere Kontakte pflegte er nach Österreich und Ungarn.
Ob bei aller wissenschaftlichen Zuarbeit noch Einsatz und Engagement für den Schuldienst verblieb, darf bezweifelt werden. In der astronomischen Disziplin wurden Weber jedenfalls einige Anerkennungen zuteil, abgesehen davon, dass der Ortsname Peckeloh in der internationalen Fachpresse regelmäßig erschien. Die Pariser Sternwarte ernannte ihn zum Ehrenmitglied und der preußische Kultusminister zeichnete Weber 1875 mit einem Ehrensold aus (der heute bekanntlich den emeritierten Bundespräsidenten zuteilwird). Johann Heinrich Weber starb am 13. März 1885 in Schiplage, einem heutigen Ortsteil der Stadt Melle. Im Nachruf des Kölner
Astronomen Hermann Joseph Klein hieß es: „Wenn es wahr ist, dass nicht äußerer Glanz und Prunk und persönliches Hervortreten in öffentlichen Kreisen, sondern vielmehr stille Ruhe und Zufriedenheit und uneigennützige Hingabe an eine edle wissenschaftliche Tätigkeit das wirkliche Glück eines Menschen bedingen, so ist Weber der kleinen Schar der Glücklichen dieser Erde beizuzählen.“
In Peckeloh selbst wurde vor 50 Jahren ein Dorfplatz nach ihm benannt, woran kürzlich erinnert wurde.
Schilderung des Schulmeisters Schürmann in Peckeloh
- Dieser Mensch hat schon von Natur nicht die allergeringste Anlage zu einem auch nur einigermaßen brauchbaren Schullehrer: denn es fehlt ihm an allen dazu so nötigen Fähigkeiten: er hat ganz und gar kein Genie, und daher auch nicht das geringste Urteilsvermögen.
- Es fehlen ihm alle nötigen Kenntnisse, die er zum Schulunterricht schlechterdings doch besitzen muß; denn:
2.1. er kann nicht richtig lesen
2.2. er versteht nichts von dem, was er nach lieset
2.3. er schreibt elend, und von Ortographie versteht er gar nichts
2.4. im Rechnen ist er ebenso dumm
2.5. von Religion, und den ersten Wahrheiten derselben, kann er weder sich noch seinen Kindern keinen einzigen vernünftigen Begriff beibringen
2.6. sein Singen ist erbärmlich - Sein äußeres Ansehen – sein Betragen – ist von der Art, daß es ihm bey den Schulkindern gar keine Hochachtung erwecken kann. Daher kömmts, daß sie ganz familiair mit ihm umgehen – seinen Befehlen nicht folgen, sondern thun und lassen, was ihnen wohl gefällt.
- Sein Verhalten in und außer der Schule gegen seine Schulkinder
4.1. Die saumseligen Kinder hält er gar nicht ernstlich an in die Schule zu kommen, um die Eltern nicht zu erzürnen.
4.2. Er hat unter den Kindern gar keine Ordnung – steht bey ihnen in gar keinem Ansehen, daher sie kommen und weglaufen wanns ihnen gefällt.
4.3. Er flucht in der Schule wie ein Türke. - Sein ganzer Unterricht ist ganz erbärmlich, wie aus Nr. 2 genug erhellt.
- Bey Leichen [also bei Beerdigungen] soll er
6.1.zuviel Branntwein trinken
6.1.die Kinder nicht in Ordnung halten - Bei aller seiner Dummheit ist er so von sich eingenommen, daß er glaubt ganz vollkommen und ohne alle Fehler zu seyn, daher er einst bey der Schulvisitation, als er von uns belehrt wurde, mit patzigem Ton sagte: Welcher unter euch kann mich einer Sünde zeihen?“