Fotos: Thorsten Wagner-Conert
Von jetzt auf gleich kann alles anders sein – für jeden von uns: Mehr als jeder vierte Erwachsene in der
Bundesrepublik erfüllt im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung (Quelle: DGPPN). Das ist in etwa die Bevölkerungszahl von ganz Nordrhein-Westfalen, die plötzlich in ihrem Denken, Fühlen, in der Wahrnehmung und gegebenfalls auch im Handeln von der Norm abweichen kann. Die Ursachen sind
vielfältig, und oftmals führen mehrere Störungen gleichzeitig zur handfesten Erkrankung. Betroffene
gehen durch ein tiefes Tal der Tränen: Domino-gleich zieht die Krankheit vielfach den Verlust des Arbeitsplatzes, den der sozialen Beziehungen, der eigenen Kinder, der Partnerschaft nach sich. Haben Betroffene die Tortur stabil hinter sich gelassen, fangen sie oftmals bei null wieder an.
Es wird immer heftiger
Im Job-Kontext hilft in Gütersloh zum Beispiel das Berufliche Trainingszentrum (BTZ) der Kolping Bildung & Integration gGmbH dabei, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Rund vierzig Teilnehmende mit oder nach einer psychischen Erkrankung lassen sich hier zeitgleich trainieren, um wieder in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zu gelangen.
Die Klientel ist dabei so unterschiedlich, wie die mehr oder weniger überstandenen Krankheitsbilder auch: Birgit Schipp, die Leiterin der Einrichtung, spricht von oftmals gut ausgebildeten Leuten mit reichlich Berufserfahrung, die einige Schicksalsschläge hinter sich haben. „Der klassisch Depressive allein kommt heute nur noch selten vor. Multiple Beeinträchtigungen spielen eine große Rolle – und es wird immer heftiger“, sagt die Einrichtungsleitung, die eine Vielzahl von unterschiedlichen Ursachen dafür anführt. Süchte können ein Thema sein. Aber auch der ungebremste Konsum von Nachrichten: „Menschen in der Krise sind empfänglicher für negative Informationen“, sagt BTZ-Sozialpädagogin Jana Suhr.
Vor fast zehn Jahren ist das Berufliche Trainingszentrum aus der Innenstadt von Gütersloh an die Hülsbrockstraße in eine Gewerbeimmobilie gezogen. Die Anforderungen der Kostenträger waren größer geworden, echtes Training in den Handwerksbereichen Holz und Metall sowie in kaufmännischen Tätigkeiten brauchten Platz. Dabei geht es gar nicht so sehr um Kenntnisse in diesen Fachbereichen, sondern um die Wiedererlangung von beruflichen Tagesstrukturen, um der Job-Vielfalt „draußen“ wieder begegnen zu können.
Teilnehmende (die hier aus Persönlichkeitsgründen nicht dargestellt werden) durchlaufen im BTZ eine einjährige Maßnahme mit integrierten Praktika in meistens mittelständischen, oft inhabergeführten Unternehmen, die für Betroffene überschaubar erscheinen. Viele Arbeitgeber würden nach der Maßnahme neutral auf die Klientel mit der Erfahrung der psychischen Erkrankung reagieren, ließen sich vom Können der Bewerber überzeugen. Die übrigens verfügen über die ganze Breite der Bildungsabschlüsse von absolvierter Hauptschule bis hin zum Studienabschluss. „Arbeitgeber verstehen auch die Eingliederungszuschüsse schon mal als Anreiz“, ergänzt Jana Suhr die unterschiedlichen Gründe, die zur Einstellung von BTZ-Absolventen führen.
Raus aus der Achterbahn
Das BTZ kümmert sich multiprofessionell um seine Teilnehmenden: Diplom-Psychologen, Sozialpädagogen, Berufstrainer und eine Ärztin im Hintergrund beschäftigen sich mit Menschen, „deren Grunderkrankung so weit therapiert ist, dass sich die Betroffenen wieder mit dem Beruf auseinandersetzen können“, erklärt Jana Suhr.
Menschen wieder fit zu machen fürs Arbeitsleben, ist ein weites Feld: Kenntnisse des Sozialrechts, das Verhalten in bestimmten Situationen, Entspannung, die Beratungsmöglichkeiten über Sozialverbände – all das soll zu einem Autonomie-Gewinn verhelfen. „Bildung ist nicht nur Wissensvermittlung, sondern auch Aufklärung“, betont die Erziehungswissenschaftlerin. So seien Entscheidungsfähigkeit, Ressourcen und Kräfte am besten zu fördern.
Das Berufliche Trainingszentrum von Kolping stochert nicht irgendwie im Psycho-Nebel herum, um zu helfen. Es lässt sich regelmäßig von den Kostenträgern prüfen – muss sich prüfen lassen. Und es evaluiert selbst, verfügt über ein Qualitätsmanagement, bekommt Feedback über die sechsmonatige Nachbetreuung der Teilnehmenden. Die tatsächliche Vermittlungsquote in feste Jobs schwankt, liegt mal bei 30 bis 50 Prozent, in besseren Jahren auch bei 70 Prozent. Doch neben den reinen Zahlen gibt es andere Erfolgsindikatoren, definiert durch die Profis. So sagt Jana Suhr zum Beispiel: „Erfolg ist, wenn ein Teilnehmer mit mehr aus der Maßnahme geht.“ Und BTZ-Leiterin Birgit Schipp lässt sich so beeindrucken: „Ich bewundere an unseren Teilnehmern, dass sie Krisen durchlebt haben und hier ungeheuer an Energie und Kraft gewinnen, um aus dem Tal zu kommen.“
Raus aus der Achterbahn und wieder auf die gerade Spur ist eben eine besondere Leistung – und eine Stärke, die Nichtbetroffene kaum ermessen können.