Wissen, kostenlos weiterzugeben
Fotos: Thorsten Wagner-Conert
Wenn Menschen älter werden, haben sie oft die Wahl: Alle Viere von sich strecken, die Früchte der Arbeit genießen, wesentliche Zeiten auf Mallorca oder anderswo verbringen, ab und an dem Rasen beim Wachsen zusehen, das Weltgeschehen im Fernsehen verfolgen … Barbara und Gerhard Kahmen aus Gütersloh-Friedrichsdorf hatten diese Wahl nicht. 82-jährig sind beide mitten im Leben, und sie
umgeben sich mit jungen Leuten. Weil sie nicht verblöden wollen, wie Gerhard Kahmen augenzwinkernd sagt – und weil sie etwas weiterzugeben haben. Die beiden sind Senior Experten. Und das hält sie unfassbar frisch.
Wissen emphatisch weitergeben
Der Senior Experten Service (SES) ist eine hoch aufgehängte Einrichtung, getragen von den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft. Seit 1983 gibt es ihn als Hilfe zur Selbsthilfe – und das weltweit. Die Kahmens hatten sich von einem jungen Menschen auf den Geschmack bringen lassen, sich in den Dienst der guten Sache zu stellen, ihr Wissen an junge Leute weiterzugeben. Das passierte im Ruhestand zunächst beispielsweise auf Haiti und in Uganda. Später begannen beide hier in Deutschland, ihr Wissen empathisch an junge Leute in der Phase der Berufsfindung und Ausbildung weiterzugeben.
Das Ehepaar Kahmen hatte vor langer Zeit einen amerikanischen Austauschschüler für ein Jahr bei sich beherbergt, der sich darüber Kenntnisse der deutschen Sprache aneignen wollte. Der sagte eines Tages zu seinen Gastgebern, als die vorm Renteneintritt standen: „Was wollt ihr denn jetzt eigentlich machen? Ich schlage euch vor, geht ins Ausland in die Entwicklungshilfe, ihr werdet sehr zufrieden und glücklich sein.“ Der junge Mann hatte die unruhigen Gemüter der Kahmens erkannt. Was er damals sagte, nennt man wohl Initialzündung. Beide, Barbara und Gerhard Kahmen, sind immer wieder fasziniert davon, mit jungen Leuten zu arbeiten, deren Entwicklung zu sehen. „Weil wir selbst daran wachsen“, sagt Gerhard Kahmen. Über die eigenen Söhne waren sie immer schon angetan davon, mitzubekommen, wie junge Leute ticken. „Wir wollen das Leben heute so verstehen, wie es eben ist. Und wir tolerieren es gerne“, meint der Senior. Beide freuen sich über erfolgreiche Lebenswege der Jungen, die manchmal auch erst mit dem zweiten Anlauf gelingen. „Sowas macht glücklich.“
Mehr durch Zufall sind die Kahmens dann über den SES gestolpert, mussten eine Prüfung machen, einen Eignungstest, der auch ihre wirkliche Motivation abklopfte. Alles passte – und die „dritte Lebenshälfte“ des rastlosen Ehepaares konnte beginnen; erste Station: ein Auslandsaufenthalt in Haiti.
Was bedeutet es eigentlich für die eigene Beziehung, wenn beide so für dieselben, selbst gestellten Aufgaben im Umgang mit Jugendlichen brennen? Barbara Kahmen: „Es wird nie langweilig. Wir haben viel Diskussionsstoff. Und natürlich fetzen wir uns auch mal. Wir fordern uns.“
Die Situation, in der Jugendliche sind, mit denen die Kahmens in Kontakt kommen, ist oft dieselbe: „Die jungen Leute brauchen meistens eine Unterstützung, eine Hilfe. Ganz unterschiedlich sind die Anforderungen, aber wenn wir dann zusammensitzen, das ist durchweg positiv“, ist Barbara Kahmen begeistert. Eine großherzige Frau, die das ganz selbstverständlich findet.
Pott und Deckel
Ihr jüngster Schützling war Carina aus Herzebrock-Clarholz, die bei unserem Zusammentreffen mit am Tisch sitzt – genauso, wie Shameer aus Indien, für dessen berufliche Geschicke sich beide Kahmens engagieren.
„Ich brauchte einfach jemanden, der mir die Sicherheit gibt, dass ich die in meiner Ausbildung verlangten Dinge kann“, sagt die nun fertig ausgebildete Medizinische Fach-Angestellte (MFA). An Barbara Kahmen war sie über das Internet gelangt, über die Initiative VerA, einen Ableger des Senior Experten Service. VerA steht für „die Verhinderung von Abbrüchen und Stärkung von Jugendlichen in der Berufsausbildung durch SES-Ausbildungsbegleiter“, erklärt der Senior Experten Service.
Pott und Deckel, könnte man etwas lax sagen: Die junge Frau Carina mit Unterstützungsbedarf wird von VerA an die gewesene Klinik-Apothekerin Barbara Kahmen vermittelt. Beide trafen sich fortan in der Stadtbibliothek Gütersloh, um für die Ausbildung von Carina zu arbeiten. Jung und alt haben sich schnell kennen gelernt, gingen gleich fachlich ans Werk, ohne Berührungsängste – und mit Erfolg. Ein halbes Jahr lang haben sie einmal die Woche miteinander gebüffelt, bevor Carina die Prüfung machte und bestand. Mission erfüllt. Die Sympathien füreinander sind geblieben.
Shameers Lebensgeschichte ist etwas komplexer: Der junge Mann kam 2022 aus Indien nach Deutschland. Hier konnte er direkt mit seiner Ausbildung anfangen. Er merkte schnell, dass er mit der Fachterminologie häufig Schwierigkeiten hatte, weil er die Wörter einfach nicht verstand. Die Begriffe hatte er zuvor auf englisch gelernt, die Übersetzungen fehlten. Und vieles andere war auch fremd, zum Beispiel die deutsche Kultur. Über das Handwerkbildungszentrum entstand der Kontakt zu den Kahmens. Ein Glücksfall: Shameer berichtete von seinen Schwierigkeiten und stieß mit Gerhard Kahmen gleich auf den, der als gewesener Bauingenieur und Berufsschullehrer fachlich alles geben konnte, was Shameer für seine Ausbildung als Stahlbetonbauer in der Firma AKD-Bau in Herford brauchte.
Schon in Indien hatte er die deutsche Sprache gelernt – cirka
10 Monate, um die Sprachprüfung mit Zertifikat B1 abzulegen. 2019 schon hatte Shameer ein Bachelor-Studium im Bauingenieurwesen abgeschlossen, anschließend im Büro gearbeitet. Viel zu theoretisch, fand er, der sich mehr Praxis wünschte und deshalb im Internet zu suchen anfing. Dass er im Ausland arbeiten wollte, war ihm auch klar. „Deutschland ist ein starkes Land in Europa“, urteilt der Zugereiste. Er findet die Infrastruktur hier viel besser als zuhause (was Deutsche mittlerweile manchmal kritischer sehen). Allerdings: Es sei nicht ganz einfach, Freunde zu finden. Das ginge in Indien viel besser. In Deutschland habe jeder ein Privatleben, wo man nicht so leicht hereingelassen werde.
Wesentliche Unterschiede
Über den Kontakt zu den Kahmens ist Shameer glücklich, weil Gerhard Kahmen tiefe Fachkenntnisse hat, die er in seiner Ausbildung auch benötigt. Barbara Kahmen macht ihn zum Beispiel auch sprachlich noch stärker für die theoretische Prüfung, die schon bald ansteht. Und Frau Kahmen vermittelt deutsche Kultur, die ja helfen kann, unser Land zu verstehen und sich darin zu bewegen. Als Lehrer oder Freunde empfindet Shameer die Kahmens nicht, „sie sind so etwas wie meine Eltern in Deutschland.“ „Das hat sich weiterentwickelt“, bestätigt Barbara Kahmen. Mittlerweile sei das schon eine private Ebene, Shameer könne mit allem zu ihnen kommen, was ihn bewegt, jederzeit. Nach dem sicheren Ausbildungsabschluss im kommenden Januar (immerhin ist Shameer zwischenzeitlich Jahrgangsbester gewesen) hat er sich schon das nächste Ziel vorgenommen. Sein Bachelor-Studium soll noch durch einen Masterabschluss gekrönt werden. Dafür benötigt der zielstrebige Inder ein Stipendium. Gemeinsam mit seinen Senior Experten aus Friedrichsdorf sucht er bereits nach Möglichkeiten.
Zwischen den Kahmen-Schützlingen Carina und Shameer gibt es wesentliche Unterschiede: Carina brauchte „nur“ ein wenig Stabilisierung in einer Phase ihrer Ausbildung, während Shameer quasi einmal auf Neustart gegangen ist – mit dem Wechsel des Landes, der Kultur, der Lebensweise … Mit den Kahmens haben sie über den Senior Experten Service wunderbare Menschen vermittelt bekommen – solche, die genau erkennen, wie gute Unterstützung in individuellen Situationen sein muss. Und solche, die etwas haben, was sich als Glücksfall für ihre ehrenamtlichen Aufgaben erweist: Lebenserfahrene, pragmatisch handelnde, fachlich wissende und menschlich sehr jung gebliebene Köpfe, gepaart mit einer kräftigen Portion Herzlichkeit.
SES (Senior Experten Service)
» Gemeinnützige Gesellschaft seit 1983,
Ehrenamts- und Entsendeorganisation für
Fach- und Führungskräfte im Ruhestand
» Getragen von den Spitzenverbänden der
deutschen Wirtschaft
» Gefördert vom Bund
» Hauptsitz in Bonn, 14 Büros in Deutschland
» Zusammenarbeit mit Senior Experten aus allen kaufmännischen, technischen, handwerklichen, medizinischen und sozialen Berufen
» Einsätze im Ausland insbesondere in Entwicklungs-, Schwellen- und Reformländern
» Hilfe in Deutschland für Unternehmen, Organisationen, Verbände, Schulen und junge Menschen in den Phasen von Berufsfindung und Ausbildung
Kontakt
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Kaiserstraße 185
53113 Bonn
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