Kiew – Rheda-Wiedenbrück und zurück: Von einer Flucht mit Folgen

Fotos: Thorsten Wagner-Conert

Der 24. Februar 2022 hat die Welt verändert: Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine leben die Ukrainer (und längst nicht mehr nur die) einerseits in der Angst, ihre Freiheit und im schlimmsten Fall ihr Leben zu verlieren. Andererseits zeigen die Angegriffenen eine durch den Westen mal mehr mal weniger unterstützte Wehrhaftigkeit, die vorsichtig hoffen lässt. Der russische Angriffskrieg hat Augen geöffnet, politische Blauäugigkeit beendet, das wahre Gesicht des Angreifers offenbart – und er produziert ungezählte Schicksale. Vieles erscheint unfassbar, auch wenn ein in Krisen immer wiederkehrender Gewöhnungseffekt uns allen die täglich gebotene Wahrnehmungsschärfe nimmt – wohl, um das alles irgendwie und befürchtet auf Dauer ertragen zu können.

Persönlicher Lichtblick im Kriegschaos
Unfassbar ist auch das Schicksal von Anna Martova aus Kiew – und es ist ein persönlicher Lichtblick im Kriegschaos. Die Frau hatte schon vor Kriegsbeginn geschäftlich mit dem Rheda-Wiedenbrücker Unternehmer Johannes Strunz-Happe zu tun. Nach Kriegsbeginn hatte der Baustoffhändler seiner Geschäftspartnerin das Angebot macht: „Komm her mit deiner Familie.“ Anna verstand und machte sich auf den Weg nach Deutschland – wie mehr als eine Million ukrainische Kriegsflüchtlinge. Ihren Mann musste sie in der Ukraine zurücklassen. Mitgebracht nach Rheda-Wiedenbrück hatte sie ihre Eltern und ihre beiden kleinen Kinder. Sie kamen in zwei Autos über Moldau, Rumänien und Ungarn nach Deutschland. Die Familie bewohnte ein von Happe-Mitarbeitenden schnell hergerichtetes Haus. So weit, so verhältnismäßig gut, das Leben in vergleichsweise friedlicher Improvisation, gut 1.700 Kilometer vom eigenen Zuhause entfernt. Das bestmögliche, vorläufige Ende einer dieser ungezählten Flüchtlingstorturen? Mitnichten.

In der öffentlichen Wahrnehmung ist Happe zunächst mal ein Rheda-Wiedenbrücker Baustoffhändler. Einer, wie man sie kennt: Happe hält alles vor, was am Bau benötigt wird, vom Tiefbau bis zum Dach. Er kam 1957 in die Doppelstadt, als Niederlassung des Delbrücker Unternehmens. Später trennten sich die Familienzweige, und „Happe Rot“ (was für die farblich unterscheidbaren Logos steht) bekam seinen Hauptsitz in Rheda-Wiedenbrück, während „Happe Blau“ in Delbrück verblieb.

Enormes Volumen
Dass „Happe Rot“ dann die Basis für viel weitergehende Unternehmensaktivitäten wurde, erschließt sich dem Außenstehenden nicht sofort: Seit gut 20 Jahren gibt es Eurostone als ein Unternehmen der Happe-Gruppe mit insgesamt rund 350 Mitarbeitenden, das mittlerweile deutlich größer ist als der tradierte Baustoffhändler. Ohne großen Trommelwirbel dreht Eurostone im Naturstein- und Fliesenmarkt ein großes Rad in Europa – vielleicht sogar das größte in der Branche. Das Unternehmen bewegt ein enormes Volumen, makelt Material häufig „nur“ zwischen Herkunfts- und Bedarfsort, ohne dass der Unternehmens-standort Rheda-Wiedenbrück berührt wird. Dabei geht es um tausende Container. Am Hauptsitz des Unternehmens selbst tauchen jährlich gut 5.000 Container und dazu auch knapp 700 LKW aus der Ukraine mit Natursteinfracht auf, die anschließend europaweit in die Verteilung geht.
Die wirtschaftlichen Verbindungen von Eurostone sind weitreichend: Naturstein wird international eingekauft, beispielsweise in Portugal, in Spanien, in Vietnam, in Indien …
Auch die Ukraine gehört dazu – und das war schon vor dem Angriffskrieg so. Drei Werke hatten da für Eurostone produziert, von denen mittlerweile eines zerbombt ist. Der Krieg hat vieles durcheinander gebracht, es gibt Riesenprobleme durch fehlende Manpower oder auch durch fehlende Energie. Trotzdem oder gerade deswegen: Johannes Strunz-Happe ist unprätentiöser Macher-Typ: „Bereits vier Wochen nach Kriegsbeginn haben wir wieder Aufträge in die Ukraine gegeben.“

Kind im Manne bewahrt
Über das Unikat Strunz-Happe ist zu reden, über einen, der seinen eigenen Weg geht in der wohl angenehmsten Form von Hemdsärmeligkeit, was voraussetzen würde, dass er Hemd trägt. Nicht immer ist das im Job der Fall – zum Anpacken reicht ja auch ein T-Shirt. Johannes Strunz-Happe hat sich das Kind im Manne bewahrt. Das belegen reichlich eigene Sammlerstücke, die sich überall im Unternehmen finden. In der weitläufigen Fliesenausstellung in den ehemaligen Seidensticker-Hallen finden sich Kirmes-Exponate, im Bauzentrum sind es alte Tanksäulen. Und an anderer Stelle wiederum tauchen moderne Kunst, „Tim und Struppi“-Figuren von Hergé in Lebensgröße und Neon-Werbung auf. Kein Zweifel: Johannes Strunz-Happe ist Happe Gruppe ist Johannes Strunz-Happe.
Der wiederum hat sich auch den Menschen im Unternehmer bewahrt: Anna Martova, die ukrainische Geschäftspartnerin aus Friedenszeiten, die mit ihrer Familie nach Kriegsbeginn in Rheda-Wiedenbrück ein temporäres Zuhause fand, wird das bestätigen:
Zwei Jahre fern der wirklichen Heimat in Kiew war ihr bewusst geworden: „Wenn ich meine Ehe, meine Familie retten will, dann muss ich nach Hause.“ So sprach sie’s ihrem Förderer gegenüber aus, nicht wissen könnend, wie die Reaktion wohl sein würde. Der hätte die Entscheidung zur Kenntnis nehmen, die Episode hier beenden können. Aber dann wäre es nicht Johannes Strunz-Happe gewesen, dem es eine Herzensangelegenheit ist, dass „Menschliches und Geschäft in Einklang sind“. Pragmatisch bot er Anna die Gründung eines Vertriebsbüros von Eurostone Kyiv (Kiew) und eine Minderheitsbeteiligung an. Gesagt, getan: Ein 400 Quadratmeter-Büro wurde gekauft, sechs Mitarbeitende gibt es da mittlerweile. Johannes Strunz-Happe bestätigt das unternehmerische Risiko: „Natürlich ist da auch ein bisschen Zocken dabei, entweder ist das später ein Vielfaches wert – oder aber ein wirtschaftlicher Totalschaden.“

Der Mann bringt Unternehmertum und Herzenswärme – in diesem Fall für Anna Martova und ihre Familie – zusammen, als sei das ganz selbstverständlich. Und er räumt mit verklärten Vorstellungen auf, nötigenfalls durch eigene Anschauung. Vor dem Krieg ist Johannes Strunz-Happe schon oft in Kiew gewesen. Dieses Jahr war er mit dem Nachtzug im Frühjahr über Polen in die Ukraine gereist, hatte sich dort mit dem Auto auf den Weg gemacht. Ein Abenteurer sei er nicht, er wollte es schlicht wissen. Und so hat er erfahren, dass neben dem Krieg vergleichsweise normaler Alltag geht, in Kiew die Restaurants voll sind. Ausländische Autos allerdings seien nicht unterwegs, mal abgesehen von denen der UN. Die Dörfer auf der Hinreise nach Kiew wirkten eigentlich normal, so wie vor dem Krieg, nur die Friedhöfe zeugten überall von den Kriegsopfern.

Happescher Pragmatismus
Johannes Strunz-Happe war mit Eurostone schon vor dem Krieg da – und er möchte das Zeichen setzen „Ich stehe hinter euch“. Und er ist beeindruckt, wie das Geschäft trotz aller kriegerischen Hemmnisse funktioniert: „Wir bewegen Ware, indem wir geschickte Logistik drumherum packen“, sagt er, der stolz darauf ist, dass jeden Tag ukrainische LKW Rheda-Wiedenbrück erreichen. Die Naturstein- und Fliesen-Paletten sind mit ukrainischem Herz versehen – und mit der Aufschrift „Made in Ukraine“.

Die Zutaten des Happe-Erfolges? Neben einem guten Vertrieb und Produktideen seien das eben auch ein antizyklisches Verhalten, Kontakte, Vertrauen und Mut. „Steine und Fliesen werden auch in der Ukraine gebraucht, nach dem Krieg“, sagt Johannes Strunz-Happe. Und das mutet aus seinem Mund nur einen kurzen Augenblick zynisch an. Schnell ist man danach überzeugt vom Happeschen Pragmatismus und dem Glauben ans Danach.

Rheda-Wiedenbrücker Mut tut gut. Das weiß eine Jetzt-Eurostone-Frau nur zu gut: Anna Martova.

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