Wie sieht moderner Lateinunterricht aus? Bericht aus der Praxis
Fotos: Detlef Güthenke/KI
Tempora mutantur – die Zeiten ändern. Einst war Latein die Sprache der Gebildeten in ganz Europa, heute wird es praktisch nicht mehr gesprochen. Im Gespräch erläutert Sprachenlehrerin Nora Pohlmann, warum es immer noch klug ist, Latein zu lernen und wie sich der Lateinunterricht verändert hat.
Frau Pohlmann, nach Ihrem Studium in Bielefeld und Ihrer Ausbildung am Städtischen Gymnasium Gütersloh sind Sie zurzeit Lehrerin an der Anne-Frank-Gesamtschule. Ihre Fächer sind Englisch und Latein. Jeder weiß, wie wichtig gute Englischkenntnisse in der globalisierten Welt sind. Latein spricht dagegen heute niemand mehr. Was hat Sie persönlich dazu gebracht, Latein zu studieren und zu unterrichten?
Ich wusste schon in der Grundschule, dass ich Lehrerin werden wollte. Sprachen haben mir immer Spaß gemacht – außer Englisch und Latein habe ich in der Schule auch Französisch und Spanisch gelernt. Meine Eltern waren ziemlich überrascht, als ich die „tote Sprache“ Latein als Abiturfach wählte, denn eigentlich war Französisch mein bestes Fach. Aber Latein hat mich begeistert: Das Tüfteln mit Sprache macht mir Spaß, die Antike und die Themenvielfalt lateinischer Texte faszinieren mich. Ich hatte tolle Lehrerinnen und Lehrer, die mich mit ihrer Leidenschaft angesteckt haben. Jetzt unterrichte ich selbst Englisch und Latein und möchte Schülerinnen und Schülern meine Begeisterung für Sprachen vermitteln. Und ich möchte das Vorurteil widerlegen, dass Latein ein verstaubtes, langweiliges Unterrichtsfach ist.
Generationen von Schülerinnen und Schülern haben sich mit Cäsars Schlachten gegen die Gallier herumgequält. Sind diese Auseinandersetzungen für Schülerinnen und Schüler heute noch relevant?
Cäsar spielt heute nicht mehr die gleiche Rolle, wie in der Vergangenheit. Früher lag der Fokus des Lateinunterrichts auf dem Erwerb von Grammatikkenntnissen und dem Übersetzen von Texten. Schilderungen von Schlachten hielt man für spannend und deshalb motivierend. Heute geht es darum, mit den lateinischen Texten zu arbeiten und zu überlegen, was sie für uns bedeuten (quid ad nos?). Cäsars Bellum Gallicum bietet zum Beispiel Ansatzpunkte, Gewalt, Macht, manipulative Rhetorik oder Selbstinszenierung als Mittel der Politik zu diskutieren. Es ist sehr spannend, unter diesen Aspekten moderne politische Texte vergleichend zu betrachten.
Bringen Schülerinnen und Schüler denn eigene Fragen
und Interessen mit in den Lateinunterricht?
Ja, das ist definitiv so. In der Kunst und der Literatur finden sich ja zahllose Verweise auf die Antike. Die Abenteuer des populären
Fantasy-Helden Percy Jackson zum Beispiel oder Neville Longbottom in Harry Potter – er macht es wie der sagenhafte römische Held Horatius Cocles. Gerade in Ostwestfalen ist das Interesse an Hermann dem Cherusker groß und damit an der Frage der römischen Herrschaft in Europa. Dann ist der Weg nicht mehr weit zu Asterix und Obelix. Sehr interessant fand ich die Arbeit einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die sich mit dem Thema Flucht beschäftigten. Ihnen war aufgefallen, dass Aeneas, der sagenhafte Stammvater Roms, Kriegsflüchtling aus dem Nordwesten der heutigen Türkei war.
Was kann der Lateinunterricht dazu beitragen, dass
Schülerinnen und Schüler fit werden für die moderne Welt?
Grundsätzlich verlangt die Arbeit mit der lateinischen Sprache Konzentration, sie fördert das Sprachgefühl im Deutschen und erleichtert es, weitere Fremdsprachen zu lernen. Schülerinnen und Schüler üben, Aussagen kritisch zu hinterfragen und eigene Standpunkte differenziert zu begründen. Die intensive Beschäftigung mit ethischen Fragen, etwa nach Herrschaft, Sklaverei oder Geschlechterrollen, macht fit für die moderne Welt und trägt entscheidend zur Demokratiebildung bei. Ciceros Überlegungen zum guten Redner sind ein ausgezeichneter Zugang zur Auseinandersetzung mit Fake News. Schließlich spannt der Lateinunterricht einen kulturhistorischen Bogen auf, der die Europäische Geschichte und den Europagedanken mit Leben füllt, dadurch dass die gemeinsamen Wurzeln in der Antike deutlich werden.
Latein galt lange als Sprache der Ärzte, Apotheker und
Juristen. Wie schaut es mit Latein als Schulfach für Gesamtschülerinnen und -schüler aus, die nicht das Abitur anstreben?
Das Gehirn ähnelt einem Muskel, je besser es trainiert wird, desto leistungsfähiger wird es. Latein ist in jedem Fall ein gutes Trainingsfeld. Neben der Sprachkompetenz und der Allgemeinbildung werden Kompetenzen wie Genauigkeit, Ausdauer und Selbstständigkeit weiterentwickelt, die in allen Berufen nützlich sind. Vor ein paar Wochen traf ich einen Schüler, der auf das Berufskolleg gewechselt war. Er berichtete stolz, dass er nun zu den Besten gehört, weil er dank des Lateinunterrichts die deutsche Grammatik beherrscht. Andererseits sind für die Sprachenwahl natürlich die individuellen Begabungen und Interessen ausschlaggebend. Es ist sicher klug, dabei auch die weiteren schulischen und beruflichen Ziele im Blick zu haben.
KI und Digitalisierung sind zwei zentrale Aspekte der
Arbeitswelt und zunehmend auch in der Bildung. Wie sieht
es in dieser Beziehung mit dem Lateinunterricht aus?
Unsere Welt ist dabei sich tiefgreifend zu verändern – auch die Schule. Die KI übersetzt jeden Text fehlerfrei, warum soll ich als Schülerin da noch Englisch lernen? Die KI beantwortet (fast) alle geschichtlichen Fragen in Sekundenschnelle, muss ich als Schüler da noch historische Texte büffeln? Wir werden den jungen Leuten die Bedeutung des Lernens neu erklären müssen und zwar weitgehend unabhängig von Nützlichkeitsaspekten. Wir Latinisten kennen diese Situation schon und können Antworten geben.
Die Digitalisierung hat den Unterricht verändert. An die Stelle grüner Kreidetafeln sind in den Gütersloher Schulen Smartboards getreten, und alle Schülerinnen und Schüler ab Klasse 7 haben ein eigenes iPad. Der Austausch von Materialien und Arbeitsergebnissen funktioniert problemlos, digitale Präsentationen bieten ein großes Potenzial. Die Schulbücher bieten QR-Codes zu Audiodateien oder Übungen an, die automatisch korrigiert werden. Ich erstelle regelmäßig LearningApps, die gezielt auf meine Lerngruppen abgestimmt sind. Die gemeinsame Arbeit an Übersetzungen profitiert davon, dass alle gleichzeitig an einem Text arbeiten und sich gegenseitig Tipps geben können. Der entscheidende Vorteil von digitalen Tools im Lateinunterricht ist für mich, dass es viel leichter geworden ist, den Lernenden hinsichtlich ihres individuellen Lerntempos, Anforderungsniveaus und Lernkanals gerecht zu werden.
Was sind für Sie Kennzeichen eines modernen, zeitgemäßen Lateinunterrichts?
Für mich sind das neben der Nutzung digitaler Tools die Individualisierung und die Schülerzentrierung. Unterricht profitiert von Wahlmöglichkeiten: Neben analytischen Zugängen können bei der Textarbeit kreative Zugänge wie Rollenspiele, Fotostorys oder kreatives Schreiben zu einer schlüssigen Interpretation führen. Außerdem möchte ich durch das Latine loqui, also das Lateinsprechen, die lateinische Sprache lebendig werden lassen. Es macht großen Spaß statt happy birthday to you einmal gratulamur tibi (wir gratulieren dir) zu singen.
Also ist es nicht mehr so, dass der graubärtige Lateinlehrer die Klasse betritt, sich ans Pult setzt und befiehlt, dort weiter zu übersetzen, wo man in der Vorstunde aufgehört hat?
Nein, da haben Sie Recht, das ist nicht mehr so, denn die Rolle der Lehrkräfte hat sich verändert. Es geht nicht darum Wissen weiterzugeben, sondern es geht darum Wissen aufzubereiten und attraktive Wege selbstständigen Lernens zu eröffnen. Die Möglichkeiten, das zu tun, sind praktisch unbegrenzt. Ein Beispiel ist die Entwicklung von Escape-Rooms. Die Vorbereitung ist aufwändig, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass alle begeistert mitmachen, im Team gegen den Zeitdruck kämpfen und ihre individuellen Stärken und Ideen einbringen. Lehrerinnen und Lehrer sind Experten ihrer Fächer und Experten der Wissensvermittlung. Unterricht gelingt, wenn sie das zu vermittelnde Wissen so durchdringen und aufbereiten, dass Schülerinnen und Schüler sich auf den Lernprozess einlassen.
Was ist Ihre Antwort, wenn Eltern Sie fragen, ob ihr Kind in der 7. Klasse besser Latein oder eine moderne Fremdsprache wählen sollte?
Grundsätzlich wünsche ich mir natürlich, dass viele Schülerinnen und Schüler Latein wählen und entdecken, wie viel Spaß Lateinlernen macht. Aber die Sprachenwahl hängt von vielen Faktoren ab.
Es gibt junge Menschen, die gerne und spontan kommunizieren. Für sie ist eine moderne Fremdsprache die richtige Wahl. Andere Kinder nehmen sich lieber mehr Zeit und überlegen gründlich, bevor sie etwas sagen. Für sie ist Latein ein gutes Fach – hier ist die Unterrichtssprache Deutsch, und es kommt mehr darauf an, gründlich zu analysieren als spontan zu reagieren.
Was ist das Tolle an Latein?
Ich finde es besonders toll, in die spannende Welt der Antike einzutauchen und damit den Blick auf unsere heutige Gesellschaft und Zeit zu erweitern. Latein ist ein Fach mit einer langen Tradition, und trotzdem gibt es unbegrenzte Möglichkeiten, den Unterricht immer wieder neu zu gestalten und die Schülerinnen und Schüler für das Fach zu gewinnen.