In Borgholzhausen lässt ein Neujahrsritual aufhorchen: Die Silvestersänger laufen von Tür zu Tür und halten einen alten Nachtwächterbrauch am Leben.
Text: Andreas Beune
Silvesterbräuche, die aus dem Rahmen fallen, gibt es zahlreiche. In Italien beispielsweise tragen manche Menschen zum Jahreswechsel rote Unterwäsche, weil das Glück versprechen soll. Aus demselben Grund laufen in Kolumbien einige zur mitternächtlichen Stunde mit leerem Koffer einmal um den Häuserblock. Und in Westfalen existierte vor vielen, vielen Jahren noch der Brauch des Neujahrshämmerns: Schmied und Gesellen versammelten sich an einem Amboss, um das alte Jahr im wahren Wortsinn auszuhämmern.
An eine alte Tradition knüpfen auch die Silvestersänger an, die seit etlichen Jahrzehnten in Borgholzhausen den Jahreswechsel musikalisch begleiten. „In Borgholzhausen gab es früher ein ausgeprägtes Nachtwächterwesen“, beleuchtet Carl-Heinz Beune vom Heimatverein Borgholzhausen den Hintergrund. „Die Nachtwächter gingen in der Silvesternacht von Haus zu Haus und verdienten sich damit ein paar Münzen.“ Ein willkommener Nebenverdienst, weil der Beruf früher nicht zu den angesehensten zählte und der Lohn entsprechend karg ausfiel. Ebenso willkommen wie das Geld waren Schnaps oder Zigarren als Silvestergaben. Als in den 1920er Jahren kein Nachtwächter mehr in „Pium“ benötigt wurde, weil elektrische Straßenbeleuchtung und neue Polizeigesetze für mehr Sicherheit sorgten, hielten die Bürger dennoch weiter an dem Neujahrsritual fest. Seitdem ziehen am Silvesterabend drei, vier, manchmal sogar fünf Sänger in Nachtwächtermontur mit grünen Lodenmänteln, Hut und einer Stangenwaffe (praktischerweise aus Kunststoff) durch die Straßen.
Mit im Gepäck bei ihrer Tour von Tür zu Tür haben sie christliches Liedgut. In den Stunden vor Mitternacht intoniert die Schar nach einem kräftigen Trillerpfeifensignal das Lied „Hilf Herr Jesu, lass gelingen, hilf das neue Jahr geht an“. In den Stunden nach Mitternacht stimmen die Sänger „Das alte Jahr vergangen ist, wir danken die, Herr Jesu Christ“ an – dieses Mal von einem lauten Horn-Ton angekündigt. Die einzelnen Strophen des Nachtwächterliedes wechseln sie stündlich. Eine Einkehr zur Stärkung in einer Gaststätte ist fester Bestandteil des Programms.
Mag es in vielen Städten wie Bielefeld, Gütersloh oder Münster heutzutage Nachtwächter-Rundgänge als Stadtführung zu späterer Stunde geben, so ist die Tradition des einst verbreiteten Nachtwächtersingens fast vollkommen zum Erliegen gekommen. Neben Borgholzhausen lassen lediglich eine Handvoll Gemeinden beispielsweise im Märkischen Kreis oder in Bayern dieses Brauchtum hochleben. Dass das traditionelle Neujahrssingen mancherorts eingestellt wurde, hatte dabei vor allem einen Grund, wie ein Blick in örtliche Zeitungsarchive verrät: Die Silvestersänger trafen, nicht zuletzt dank des stetigen Konsums alkoholhaltiger Getränke, immer seltener den richtigen Ton. Manche Tour endete gar frühzeitig im Graben, sodass sich Gemeinden von dieser Traditionspflege verabschiedeten. In Borgholzhausen hat es im Laufe der Jahre natürlich auch den einen oder anderen Vorfall dieser Art gegeben, erläutert Carl-Heinz Beune. In einem Jahr, so erzählt man sich im Ort, sind von sieben gestarteten Männern nur zwei am Ziel, der evangelischen Kirche, angekommen. Zur Regel geworden ist es aber keinesfalls, mittlerweile erfreuen sich Pfefferminzbonbons bei den Sängern größerer Beliebtheit. Geblieben sind indes die Nachwuchssorgen. „Die hat es eigentlich immer wieder gegeben“, so der Heimatvereinsvorsitzende.
Um den Silvesterbrauch aufrechterhalten zu können, wurde die Strecke angepasst. Starteten die Sänger früher um 21 Uhr und tröteten bisweilen erst um 4 Uhr morgens zum letzten Mal ins Horn, hat sich in den vergangenen Jahren folgender Ablauf bewährt: Um 18 Uhr beginnen die Silvestersänger am DRK-Pflegeheim, um zum feierlichen Abschluss zur mitternächtlichen Stunde an der Evangelischen Kirche aufzutreten. In der Zwischenzeit suchen sie eben jene Haushalte auf, die sich im Vorfeld angemeldet haben – manche öffnen seit 60 Jahren ihre Tür. Ein strammer Fußweg von zwölf Kilometern ist für die Sängerschar keine Seltenheit. Nach dem Finale an der Kirche wartet auf sie eine wärmende Suppe im Kultur- und Heimathaus, anschließend wird das eingenommene Geld aufgeteilt. Auch die Stadt Borgholzhausen unterstützt die Tradition, indem sie den Besuchern am Kirchplatz Sekt spendiert. Zur guten Sitte gehört auch ein jährliches Treffen von Bürgermeister mit den amtierenden Silvestersängern. Dabei kommen dann auch tragische Erlebnisse zur Sprache, wie der Schlaganfall, den Silvestersänger Werner Steiner 2011 am Ende der Tour erlitt. 24 Jahre lang hatte Steiner das Nachtwächterlied mitangestimmt, sein Vater Paul war zuvor 21 Jahre dabei.
Als Anerkennung für all die Sänger, die in den vergangenen rund 200 Jahren am Silvesterabend von Tür zur Tür zogen, hat ihnen der Heimatverein Borgholzhausen 2006 ein Denkmal errichtet. Die drei Bronzegestalten der Bielefelder Künstlerin Nina Koch nehmen den Geist der Zeitreise auf: Mit verschiedenen Körpergrößen und Kleidungsstils von der alten Prinz-Heinrich-Mütze bis zum Humphrey-Bogart-Look verkörpern sie ganz unterschiedliche Charaktere.
Einzig im Jahr 2020 konnte kein Sänger mit Mütze oder Schlapphut losziehen: Das Neujahrssingen fiel aufgrund der Corona-Pandemie aus. Die Leerstelle füllte die Stadt Borgholzhausen auf kreative Art. Am Silvesterabend 2020 veröffentlichte sie auf der Homepage ein historisches Tondokument, das Stadtarchivar Dr. Rolf Westheider bearbeitet hatte: eine Radioreportage des „Reichssenders Köln“ über den Silvester- und Neujahrsgesang 1937/38. Neben erklärenden Worten von Dr. Rolf Westheider gibt es ein Radio-Interview aus dem Jahr 1995 mit Carl-Heinz Beune zur Geschichte der Silvestersänger. In der sich anschließenden fast 30-minütigen Reportage schildert Reporter Bernhard Ernst seine Eindrücke vom letzten Tag des Jahres 1937 in Borgholzhausen. Er nimmt die Hörer mit ins Wirtshaus, auf den Kirchplatz oder in das Hause Kükenbrink, wo Pickert für geplagte Sängerseelen auf dem Herd brutzelt. Es werden Steinhäger und Zigarren gereicht, Mitternachtsglocken lassen sentimentale Stimmung aufkommen, und ein Loblied auf die Sangeskunst im Allgemeinen darf auch nicht fehlen. Der Reporter selbst war kein unbeschriebenes Blatt: 1925 hatte er ein Spiel zwischen Arminia Bielefeld und Preußen Münster live übertragen – es war die erste Radioübertragung einer Fußballpartie in Deutschland überhaupt. „Nach der Veröffentlichung des Tondokuments habe ich sehr viele positive Reaktionen erhalten“, berichtet Rolf Westheider. Auf diese Weise hat der Silvesterbrauch auch im Corona-Jahr die Menschen in Borgholzhausen erreicht und bewegt.
Einer von vielen bemerkenswerten Sätzen aus der Reportage, von der übrigens eine Vinylpressung erhalten geblieben ist, lautet: „Der nicht singen kann, den können wir nicht gebrauchen.“ Allzu große Sangeskünste darf der geneigte Zuhörer bei den Silvestersängern dennoch nicht erwarten. Die Sänger seien schließlich keine ausgebildeten Musiker, sondern Menschen, die einfach gerne eine Tradition am Leben halten wollen, betont Carl-Heinz Beune. „Normalerweise treffen sie sich vorher einmal zum Proben, mehr aber auch nicht.“ Ob es 2021 eine Probe und ein Silvestersingen gibt, steht allerdings in den Sternen: Das hängt nicht zuletzt vom Verlauf der Corona-Pandemie ab.